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Ekstase und Innerlichkeit. Yaron Herman am Steinway-Flügel, den er sich für alle seine Auftritte wünscht.
© Verhaegen/AFP

Improvisation: Gib dein Ego an der Garderobe ab

"Musiker müssen bereit sein, von Klippen zu springen." Improvisation als Wahnsinn und Methode: eine Begegnung mit dem Jazzpianisten Yaron Herman.

Wenn Mozart ein Wunderkind war, dann ist Yaron Herman trotz seiner Jugend wohl ein Wundergreis. Denn er hat nicht einmal die Hälfte seines bisherigen Lebens als Musiker verbracht. Mit gut 15 Jahren beendete eine schwere Knieverletzung seinen Traum von einer Basketballkarriere: Er musste die israelische Jugendnationalmannschaft verlassen. Mit 16 Jahren hatte er seine neue Passion, das Klavier, gefunden, obwohl er von dem Instrument keine Ahnung hatte – geschweige denn von Jazz. „Ich hörte Pop, Rock und Techno“, sagt er, „das ganz normale MTV-Teenagerprogramm.“ Doch als er in Tel Aviv Opher Brayer, dem Lehrmeister vieler bedeutender israelischer Jazzer begegnete, war es um ihn geschehen. Herman erinnert sich genau: „Ich brachte noch keinen einzigen Ton zustande, aber Brayer versprach mir: ‚Drei Jahre, und du spielst wie Keith Jarrett. Und weißt du warum? Weil Talent nicht existiert.’“

Heute, mit 29 Jahren, klingt er ganz wie Yaron Herman, obwohl man die Pianisten, in deren Bahnen er sich bewegt, stets durchhört. „Stile werden überschätzt“, sagt er. „Ob als Dixieland-Schrammler, Free Jazzer oder DJ – in der Musik geht es darum, seine Zuhörer zu berühren. Solange jemand so ehrlich spielt, dass man glaubt, er erfinde etwas zum ersten Mal, stört es mich nicht, wenn er in einem bekannten Stil spielt. Das Ziel von Kunst war nie die Erfindung von Neuem. Innovation war immer ein innerer, kein äußerer Prozess – ein Weg, mit unbekannten Empfindungen umzugehen. Die Musik steckt nun einmal nicht in den Noten. Sie ist irgendwo anders: in den Absichten, in der Stille. Sobald man eine Note anschlägt, ist dies nur die physische Manifestation eines Klangs.“

Herman hat leicht reden. Schon rein energetisch erreicht er ein Niveau, um das andere vergeblich ringen. Zugleich hat sein Anschlag eine angedunkelte Schwere, die seinem körperlichen Spiel eine seltene dramatische Qualität verleiht. Vom Heer der technisch oft nicht weniger brillanten Pianisten unterscheidet ihn überdies die Selbstverständlichkeit, mit der er Intellekt und Intuition verbindet. Apollinische Grazie und dionysische Feuerwalzen, Fragiles und Fraktales, innige Balladen und hervorstürzende Tonwirbel, chopineske Pracht und freitonale Sprödigkeit, dazu Ausflüge in orientalische Melismen – Herman hat das ganze europäisch geprägte Jazzidiom verinnerlicht und rollt es über der Tastatur seines Steinway mit derselben Offenheit aus, die ihm auch als Person zu eigen ist.

Lebenslustig, wach und neugierig, wie er sich beim Gespräch in Berlin zeigt, erzählt er so gerne Michael-Jordan-Anekdoten, wie er von seinen Leseabenteuern mit Dostojewski oder Henry Miller schwärmt. Und so einer, der zu allem Überfluss auch noch ein makelloses Englisch und Französisch spricht, das er in seiner Wahlheimat Paris allerdings auch brauchen kann, will kein Talent haben?

Herman hält es da mit Opher Brayer, der einen Großteil seines Lebens damit verbrachte, zu verstehen, was Begabung ausmacht: „Talent besteht für ihn aus drei Elementen: dem IQ, dem EQ und dem OQ.“ Die beiden ersten Bestandteile muss man nicht lange erklären. „Wenn man seine analytischen Fähigkeiten entwickelt, Wissen ansammelt, Muster erkennt, Analogien herzustellen lernt und sein Assoziationstempo steigert, ist das Intelligenz. Sie reicht aber noch nicht. Man muss auch den Schlüssel zu dem Safe finden, in dem die Emotionen lagern, mitsamt allen Traumata. Sie sind eine Quelle, die sich in Kreativität umwandeln lässt oder in Zerstörung. Und auch das genügt noch nicht. Man kann intelligent und sensibel sein und muss trotzdem noch zehntausende von Stunden ins Üben investieren.“ Damit kommt das dritte Element ins Spiel: „Der OQ ist der Grad von Obsession, der zu allem gehört.“

Herman sieht sich denn auch als Piano-Nerd, der jedes Buch über Klaviermechaniken, Körperhaltung und Karrieren verschlungen hat, dessen er habhaft werden konnte. Alle dabei gewonnenen Erkenntnisse hat er vom Papier allerdings längst in die Wirklichkeit der Bühne geholt. Was immer man wissen kann, verlangt zumal in einer weitgehend improvisierten Musik sofort nach Verflüssigung. Auch physisch rüttelt er an allem, was sich schon daran zeigt, dass Herman nicht zu den angeleinten Sitzpianisten gehört, sondern zu denen, die es noch vor dem Publikum lustkeuchend vom Hocker reißt, als könnten sie mit ihrem Flügel davonfliegen.

Mit der CD „Follow the White Rabbit“ erscheint nun Yaron Hermans Debüt beim deutschen Label ACT, und seine erste Produktion mit Chris Tordini am Kontrabass und Tommy Crane am Schlagzeug. Verglichen mit seiner letzten Trioaufnahme „Muse“, auf der neben Matt Brewer und Gerald Cleaver auch das Quatuor Ebène zu hören war, ist es das eingängigere Album. Elf Stücke im knapp gehalten Songformat, mit Versionen von Nirvanas „Heart Shaped Box“ und Radioheads „No Suprises“, dazu das im Kollektiv frei improvisierte Titelstück samt einem ebenso aus dem Hut gezauberten Anderthalbminüter und einer 52-sekündigen Klaviereingebung, alles ohne große solistische Eskapaden.

Das Ganze, die Verdichtung eines dreitägigen Studiotermins, entwickelt eine schöne Geschlossenheit. Aber um zu spüren, welche ekstatischen Fliehkräfte an diesen Stücken zerren können, lohnt es sich, das Trio live erleben und zu hören, wie es das Material zerbröselt, neu zusammensetzt und wieder etwas Geschlossenes daraus macht. „Man muss die Grammatik einer Sprache lernen und ihre Vokabeln“, sagt Herman. „Aber was geschieht, wenn man beides gelernt hat? Wir leben schon in einer deterministischen Welt. Ein Jazzmusiker sollte nach Freiheit streben, und daran muss man arbeiten. Man muss diese Welt größer machen. Jeder Musiker hat ein System, in das er zurückfallen kann, wenn es für ihn zu riskant wird. Aber man sollte jederzeit in der Lage sein, von einer Klippe ins Meer zu springen.“

Den nötigen Mut dazu hat ihm – wie dem Bassisten Avishai Cohen oder der Pianistin Anat Fort – Brayer vermittelt, von dessen Methoden auch schon Kampfsportler, Manager und Marketingleute profitiert haben. Brayer nutzt die verschiedensten Quellen. „Er arbeitet mit mathematischen Modellen, die er bei Joseph Schillinger lernte“, einem Lehrer von George Gershwin und Henry Cowell. „Modellen, die einen die fast unendliche Zahl musikalischer Möglichkeiten erkennen lassen.“

Er nutzt die Neurolinguistische Programmierung (NLP), bedient sich bei den Theoremen von Ayn Rands Objektivismus und bezieht sich auf das Gehörtraining des verstorbenen Jazzpädagogen Charlie Banacos, bei dem er eine Weile studierte. Brayer ist also kein Originalgenie, sondern ein Synthetisierer mit Einfühlungsvermögen. Aber das, glaubt Herman, sind auch die größten Musiker. „Sowohl bei Lester Young wie bei John Coltrane kann man genau sagen, woher sie kommen. Ihre Leistung war eine Revolution mit einem kleinen r und einem großen E.“ Einer solchen rEvolution fühlt sich auch er verpflichtet.

Daneben hat Herman die einschlägigen Improvisationsbibeln konsultiert, Kenny Werners „Effortless Mastery“, das ihm bald allzu New-Age-haft erschien. Vor allem jedoch das Buch der Bücher, Stephen Nachmanovitchs „Free Play“, das auf Deutsch leider den viel zu esoterisch anmutenden Titel „Das Tao der Kreativität“ trägt (Scherz Verlag). Klüger und dichter hat nie jemand zusammengetragen, woher Musiker, Maler und Schriftsteller ihre Inspiration beziehen. Wenngleich auch Nachmanovitch auf den Schultern von mystischen Riesen wie dem Sufi-Meister Hazrat Inayat Khan steht, so weht hier doch kein Weihrauch.

„Bücher wie ‚Free Play’ sprechen nicht von Religion als Dogma“, erklärt Herman. „Sie sprechen von Elementen, die einen erkennen lassen, dass es Dinge gibt, die größer sind als man selbst. Man verbindet sich mit einer Quelle, die nicht aus einem selber kommt und einen von seinem Ego Abschied nehmen lässt und sich als Vehikel einer Kraft empfindet, die man nicht verstehen kann. Johann Sebastian Bach, John Coltrane und Keith Jarrett sprechen von nichts anderem. Ich muss mein Bewusstsein beiseitelassen und der Musik Platz machen.“ Yaron Herman und sein Trio, ein Format, das als das überbevölkertste der Jazzwelt gilt, dürfen sich rühmen, dass ihnen das gelingt.

Yaron Herman Trio: Follow the White Rabbit erscheint heute, 22.10., bei ACT. Die Band ist derzeit auf Deutschlandtournee und kommt am 23.11. ins Berliner A-Trane.

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