Benjamin Britten an Staatsoper und Deutscher Oper: Gewalt und Wahnsinn
Benjamin Britten, gleich zwei Mal in Berlin: Die Staatsoper triumphiert mit dem Horrorstück „The Turn of the Screw“ in der Regie von Claus Guth. Auch die Deutsche Oper feiert mit der „Schändung der Lucretia“ einen Erfolg.
Das ist zu viel für ein Mädchen vom Land. Zuerst die Begegnung in London mit diesem smarten, gut aussehenden Herrn, in den sie sich unwillkürlich verliebt, der aber sofort wieder in unerreichbare Ferne rückt, weil sein Auftrag an die Gouvernante lautet, sich um seine beiden verwaisten Verwandten zu kümmern, ihn mit Erziehungsfragen aber nicht zu behelligen. Dann dieses einsam gelegene Herrenhaus, hohe Räume, eine einschüchternde Kulisse, in der sich Flora und Miles, ihre Schutzbefohlenen, ganz ungezwungen bewegen, mit der Anmut von Adelssprösslingen, vor allem aber mit einem freien, sehr sinnlichen Verhältnis zu ihren Körpern, das den Erfahrungen der Governess aus der elterlichen Dorfpfarrei diametral entgehensteht. Und als sei das alles nicht schon verwirrend genug, hört sie auch noch Stimmen, meint Menschen zu sehen, deren Einfluss auf die Kinder schädlich gewesen sei, wie die alte Haushälterin raunt, die aber längst tot sind.
Ein Hauch Hitchcock weht durch die Staatsoper im Schiller Theater. Regisseur Claus Guth und sein Bühnenbildner Christian Schmidt interessieren sich bei ihrer Neuinszenierung von Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ vor allem für die namenlose Governess, zeichnen das Psychogramm einer ebenso empfindsamen wie verantwortungsbewussten Frau, die in einen Sinnstrudel hineingerissen wird, wie sie es nennen. „Die Drehung der Schraube“ wäre die korrekte Wort-für-Wort-Übersetzung des Originaltitels, doch Mehrdeutigkeit ist dieser vor 60 Jahren in Venedig uraufgeführten Oper nach Henry James genuin eingeschrieben. Britten und seine Librettistin Myfanwy Piper bieten keine Interpretation an, fordern die Stückdeuter vielmehr zu eigenen Versionen heraus.
Das Kindermädchen wird von erotischen Fantasien gepeinigt
Der zunächst gebräuchliche deutsche Titel „Die sündigen Engel“ zielte in Richtung einer christlich-dualistischen Deutung, bei der den Geistererscheinungen die teuflische Rolle zufällt. Guth und Schmidt lassen offen, ob Flora und Miles die Stimmen überhaupt hören oder ob nicht allein das emotional zerrüttete, von erotischen Fantasien gepeinigte Kindermädchen sie halluziniert. Dass sie den Prolog und die zwei Akte dabei in 110 pausenlosen Minuten durchspielen lassen, gibt der Aufführung auch für die Zuschauer etwas Bedrängendes, Zwanghaftes. Dabei wäre es kein Schaden, gerade bei einem so intensiven Musiktheatererlebnis den Besuchern eine Erholungsphase zuzugestehen, ein wenig Raum, um die eigenen Empfindungen und Gedanken ordnen zu können.
Benjamin Britten hat „The Turn of the Screw“ für die English Opera Group geschrieben, eine kleine, von missionarischem Eifer beflügelte Truppe, die mit Zeitgenössischem durch die Lande reiste. Nur 13 Instrumentalisten braucht der Komponist – doch was für einen reichen, vielfarbigen, ja sinfonischen Klang vermag er mit Streich- und Holzbläserquintett, Harfe, Klavier und Schlagwerk zu entfalten! Hochkonzentriert verlebendigt Ivor Bolton mit der Staatskapelle diese faszinierende Partitur, die atmosphärisch ist, ohne je filmmusikhaft werden zu müssen, die naturnah wirkt, ohne zur Lautmalerei Zuflucht zu nehmen.
Besetzungscoup ist Countertenor Thomas Lichtenecker
Der dunkel grundierte, traditionssatte Sound der Staatskapelle verleiht den Tönen dabei nicht nur die Aura des Edlen, passend zur noblen, herben Schönheit der Bühnenbilder, sondern zeigt auch deutlich, wo Brittens Klangsprache wurzelt, nämlich im späten 19. Jahrhundert. Warum ein Orchester mit 136 Planstellen am Premierenabend allerdings gleich zwei Aushilfen für die Mini-Besetzung braucht, bleibt schleierhaft.
Hohe, helle Stimmen will Benjamin Britten für das düstere Drama. Richard Crofts Tenor (Peter Quint) und der Sopran von Hausdiva Anna Samuil (Miss Jessel) kommen im Schiller Theater ausschließlich aus dem Off. Auf offener Szene windet sich Emma Bells Gouverness im Kampf mit den Geistern und sich selber, sekundiert von einer Haushälterin, deren Rolle entgegen der üblichen Praxis nicht einem verdienten Ensemblemitglied anvertraut wurde, sondern der frisch und jung klingenden Marie McLaughlin.
Der eigentliche Besetzungscoup der Produktion aber ist Thomas Lichtenecker. Weil der Regisseur in der Finalszene der Schraube eine unerwartete, radikale Drehung gibt, wollte Claus Guth keinen Knabensopran für die Rolle des Miles. Sondern einen Erwachsenen – der jedoch kindlich zurechtgemacht ist, androgyn wirkt mit den langen Haaren und den zarten Zügen, seiner Schwester zwillingshaft ähnlich. Sehr beherrscht bewegt sich Lichtenecker über die Bühne, so wie sich hier überhaupt alle Figuren jeglicher Hysterie enthalten, den Zumutungen des Lebens mit Unterstatement der englischen Upperclass begegnen. Miles’ Worte aber haben denselben Klang wie die von Flora. So glockig und klar wie Sónia Grané tönt auch der Countertenor.
Akustisch wird da auf betörende Weise eine Unschuld behauptet, die den pubertierenden Körpern längst abhandengekommen ist, in krassem Gegensatz steht zum ihrem Spiel. Ein Wahnsinnseffekt. Frederik Hanssen
Wieder am 19., 22., 27. und 30. November sowie 5. Dezember.
"Schändung der Lucretia" in der Deutschen Oper.
Geschwind zu Pferde reitet Prinz Tarquinius, Sohn des etruskischen Tyrannen Tarquinius Superbus, durch die Nacht nach Rom. Man schreibt das Jahr 500 v. Chr., und der wilde Ritt, con fuoco, folgt einer weinseligen Wette im Feldlager. Es geht um das Männerthema der Weibertreue. Von Lucretia, der schönen Frau des römischen Generals Collatinus, wird gesagt, dass einzig sie unter den in der Hauptstadt verbliebenen Gattinnen treu sei und gewappnet gegen männliche Verführung. Der Prinz eilt, um ihre Keuschheit zu prüfen.
Nach „Peter Grimes“, dem Muster an Facettenreichtum, und „Billy Budd“ ist „Die Schändung der Lucretia“ die dritte Aneignung eines Werkes von Benjamin Britten durch die Deutsche Oper, leider vorläufig beschränkt auf zwei Vorstellungen im Ausweichquartier im Haus der Festspiele. Wiederholungen müssten machbar sein, weil die Aufführung wesentlich eine Ensembleleistung der Deutschen Oper ist und ein großartiger Erfolg auf einem Seitenpfad des Repertoires. Die feine, für Berlin neu überarbeitete Inszenierung der renommierten irischen Schauspielerin Fiona Shaw stammt aus Glyndebourne, ist also eine Heimkehr dorthin, wo 1946 die Uraufführung stattfand. Die Bühne von Michael Levine knüpft fantastisch an das Theater des leeren Raums an, dem eine Plane auf schwarzem Boden genügt, um ein Zelt oder ein Grabungsfeld mit der Aura vergangener Häuslichkeit darzustellen. Nur 14 Musiker in Kammerbesetzung entfalten unter der präzis animierenden Leitung von Nicholas Carter das Wesen der Partitur, die mit Rezitativ, Arie und orchestralem Crescendo, einem charakteristischen Lucretia-Motiv, faszinierendem Unisono, Lied und Passacaglia ganzer Britten ist.
Fesselnd anzuschauen, wie Male und Female Chorus (Thomas Blondelle und Ingela Brimberg), die beiden Berichterstatter, sich unter der Regie von Shaw emotional in das Geschehen einmischen bis zur stellvertretenden Spiegelung. Zumal Blondelle erfüllt imponierend den Anspruch des männlichen Parts, einst kreiert von Peter Pears. Ronnita Miller und Elena Tsallagova als Gefährtinnen Lucretias (Katarina Bradic) stehen ebenso wie Seth Carico und Andrews Harris als römische Generäle für eine sorgfältige Erneuerung des Ensembles. Kurzfristig eingeflogen und gefeiert: Duncan Rock in der Rolle des Tarquinius, dessen Kuss Lucretia erwidert, bevor er die Tugendreiche vergewaltigt. Die Oper fußt auf dem Schauspiel „Le Viol den Lucrèce“ von André Obey. Lucretias Selbstmord, hier verwoben mit dem Kreuzestod Christi: Aspekte einer abendländischen Endlosgeschichte, zuerst erzählt durch Titus Livius. Wann sie spielt? Heute und zugleich in halbmythischer Frühzeit, sagt die Aufführung.