Kultur: Geteilte Feier
Vor 20 Jahren feierte Berlin sein 750. Stadtjubiläum. Sein Jubiläum? Zwei Jubiläen.
Eigentlich fing alles schon so komisch an. Kein ordentlicher Städtename, wie man das auf künftigem preußischen Territorium tunlichst erwarten könnte, sondern eine Doppelstadt. An der einen Seite der Spree stand Berlin, an der anderen das etwas kleinere Cölln. Schwesterstädte, urbane Zwillinge, doppelte Lottchen. Anno 1237 wurde Cölln, 1244 Berlin erstmals benannt. Leider fehlt eine Gründungsurkunde: „In beiden Fällen wird der Ort lediglich als Amtssitz eines Geistlichen erwähnt: der erste namentlich bekannte Berliner ist Symeon, 1237 als Pfarrer von Cölln („Colonia“) und 1244 als Propst von Berlin jeweils Zeuge von Verträgen, in denen die Markgrafen von Brandenburg Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung regelten“, sagt die Stadthistorikerin Christiane Schuchard und vermerkt, was archäologischer Funde verraten: Beide Siedlungen existierten bereits vor 1237. Aber dazu gibt es nichts Schriftliches. Im Domstiftsarchiv zu Brandenburg liegen die Pergamenturkunden von 1237.
Bis 1987 sind es nach Adam Riese genau 750 Jahre. Kein Städtchen lässt sich so ein wunderbares Datum entgehen. Es wird gefeiert und gejubelt, und was Klein-Kleckersdorf recht war, musste der stolzen Hauptstadt mit ihrer aufregenden und nicht nur glorreichen Vergangenheit teuer sein. 1987 brachte Berlins 750-Jahr-Feier ganze Heerscharen von kreativem Personal auf die Beine, aber nicht vereint, sondern getrennt. Denn Berlin war seit 1961 wieder eine Doppelstadt, durch eine Mauer geteilt, die höher war als jede Stadtmauer zuvor. Im östlichen Teil veröffentlichte ein „Komitee der Deutschen Demokratischen Republik zum 750-jährigen Bestehen von Berlin“ Thesen, die wie Hammerschläge die Eigenständigkeit des östlichen Teils festklopften: „Seinen 750. Jahrestag begeht Berlin als Hauptstadt der DDR, des sozialistischen deutschen Staates, in dem der Friede oberster Grundsatz der Staatspolitik ist“. Und: „Berlin entstand unweit des heutigen Marx-Engels-Platzes zu beiden Seiten der Spree. Über Jahrhunderte hinweg hat sich die Geschichte Berlins dort vollzogen, wo sich heute das Zentrum der Hauptstadt der DDR befindet“. Mit anderen Worten: „Unser“ Berlin ist die wahre Hauptstadt, die es zu feiern gilt, dieses „Westberlin“ auf der anderen Seite hat wenig mit dem Ursprung der Stadt zu tun. Und mit gemeinsamen Feiern schon gar nicht.
Dabei war das Jubeljahr 1987 voller Ereignisse, die einen Wandel durch Annäherung signalisierten: Staatschef Erich Honecker bereitet seinen Besuch in der Bundesrepublik vor, der US-Präsident ruft Mister Gorbatschow zu, die Mauer einzureißen, es gibt das SPD-SED-Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“, in dem jeder erfährt, dass es zwischen beiden Parteien auch Gemeinsamkeiten gibt. In Moskau beginnt die Götterdämmerung. Das DDR-Volk hat zu großen Teilen die Phrasen, mit denen die Stagnation garniert wird, satt, und ist entsetzt, als SED-Chefideologe Kurt Hager im „Stern“ den Interviewer fragt: „Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“
Umwelt- und Menschenrechtsgruppen in der DDR ballen nicht mehr nur die Fäuste in der Tasche, sie werden aktiv. Die jungen Leute spüren den Ost-Wind of Change im Rücken, sie werden aufmüpfiger und trauen sich etwas: Als bei einem Jubiläums-Open-Air-Konzert nahe dem Reichstag Genesis, David Bowie und die Eurythmics auftreten, kommen ein paar tausend Jugendliche bis zur Sperre Unter den Linden, um das Konzert wenigstens zu hören. Einige sitzen in der Luisenstraße auf Dachgärten und auf Balkonen, bis sie von Volkspolizisten verscheucht werden. Als die Polizei die Popfans zurückdrängt, rufen sie „Gorbi! Gorbi!“ und „Die Mauer muss weg“. 200 Verhaftungen. 1987 reisen fast 20 000 Menschen in das andere Deutschland aus, weil sie die Hoffnung auf Veränderung im verkrusteten Staat aufgegeben haben. In den Ämtern stapeln sich weitere Ausreiseanträge. Die DDR nähert sich der Pleite, tut aber so, als ob die Scheuern wohlgefüllt und alle Landeskinder optimistisch, froh und glücklich sind. Je morscher, desto forscher. Weil die ganze Republik für die Hauptstadt bluten muss, sind die Leute wütend, zerstechen draußen im Land, in Sachsen zumal, Autoreifen an Wagen mit Berliner Kennzeichen oder kleben lustige Vignetten an ihre Heckscheiben: „781 Jahre Dresden“ oder „1026 Jahre Halle“. Die Stasi registriert „in steigender Tendenz kritische, mit zunehmender Schärfe vorgetragene Meinungsäußerungen, die sich auf Umfang und Aufwand der Vorbereitung und Durchführung der 750-Jahr-Feier der Hauptstadt beziehen“. Da hatten die Jubelfeiern, eh es begann, schon genau das Gegenteil von dem erreicht, was man bezwecken wollte: Stolz auf die Metropole verbreiten. Und wie!
Alles war groß und gewaltig, ja monumental, was sich vor 20 Jahren zwischen „Linden“ und Karl-Marx-Allee begab: ein Festumzug, wie ihn Berlin so noch nie gesehen hatte. 750 Jahre Geschichte in fünf Stunden – eine einfallsreiche, bunte, lockere und sogar fröhliche Darbietung der Historie in bewegten Bildern. „Diese Superrevue hinterließ ein Gefühl der Freude und des Glücks, dabei gewesen zu sein – bei den 700 000 Zuschauern, aber auch bei den 40 000 Mitwirkenden aus dem ganzen Land. Sie hatten auf originellste Weise im Zeitraffertempo die Historie einer Millionenstadt präsentiert, ein lebendiges Geschichtsbuch aufgeblättert und die Gegenwart in ihren buntesten Farben gemalt: Berlin, dir muss man einfach lieben!“ schwärmte damals „Der Morgen“ auf zwei Zeitungsseiten. Dem „Tagesspiegel“ genügten 30 Zeilen für die Beschreibung der 300 bunten Bilder zu 44 Themenkomplexen, mit 924 Fahrzeugen und 375 Orchestern: „Der über zehn Kilometer lange Umzug dauerte bis zum Abend. Unter den historischen Gestalten wurden so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Friedrich der Große, Napoleon, Bismarck, Marx, Engels und der Hauptmann von Köpenick porträtiert. Im Festzug waren Hunderte von Tieren zu sehen, und auf fast 1000 Pferdefuhrwerken und Wagen präsentierten die Berliner Historisches über die Entwicklung der Stadt“. Erst später erfuhr man, wovor sich das Ministerium für Staatssicherheit fürchtete: „Zu beachtender Schwerpunkt ist das Verteilen bzw. Werfen von historischen Flugblättern, Schriften und Zeitungen aus dem Festzug“, heißt es in einer internen Dienstanweisung für die Herren von der Firma Horch und Guck an diesem, ihrem Großkampftag, denn der Klassenfeind schläft nicht, wenn andere feiern. Darum „ist zu verhindern, dass in subversiver Absicht unter der Tarnung von Kostümen Schriftgut verteilt wird“.
Dabei gab es etwas ganz Neues in östlichen Gefilden – eine „Miss Berlin“. Die Moskauer Perestroika machte es möglich, dass eine Prominentenjury bei einer Veranstaltung in Marzahn die schönste, klügste und schlagfertigste Miss kürte. Die Abiturientin Peggy Käschner kam, lächelte und siegte, dabei musste sie erst einmal überredet werden, überhaupt mitzumachen. „Ich tanze gern, das war eigentlich alles, deshalb haben die mich gefragt, ob ich da mitmache“, erinnert sie sich heute, als wir sie in Berlin aufgespürt haben. „Damals kam ich mir vor wie ein kleiner Hase unter den zwei Dutzend Bewerberinnen“. Beim Intelligenztest, auf dem Laufsteg, mit Abendrobe und im Bikini machte die Blondine eine so gute Figur, dass sie nicht nur von allen Juroren die Traumnote „6“, sondern auch noch eine Reise nach Bulgarien als ersten Preis bekam. Und die große Ehre, den Festumzug am 4. Juli in der ersten Reihe anzuführen, noch vor den Honoratioren der Stadt.
Da saß sie nun in den mächtigen Pranken eines riesigen Berliner Braunbären, ihr knallroter Badeanzug leuchtete, Peggys strahlendes Lächeln unter den blonden Dauerwellen hatte etwas Symbolisches für das junge Leben in einer alten Stadt. „Winken und lächeln war die Devise“, sagt Peggy, „irgendwie war das schon etwas Besonderes damals“. Dass die Miss auf dem Titel der „Neuen Berliner Illustrierten“ landete, hat sie gefreut, „aber das war’s dann auch schon“.
Zwei Jahre nach dem Berliner Jubeljahr fällt die Mauer. Peggy Käschner hat ihr Abitur gemacht, „und alles war plötzlich offen und möglich“, erinnert sich heute die so zielstrebige wie nachdenkliche 37-Jährige. Über ihre Jeans fällt eine lockere Bluse, Peggy heißt jetzt Fränkel, ist so blond wie damals und auch noch so hübsch mit ihrem weichen Teint und ihren blauen Augen. Das Studium der Betriebswirtschaft wurde nach der Wende gleichermaßen unterbrochen wie bereichert – erst durch Moritz, den jetzt zehnjährigen Knaben, und dann durch Luisa und Marie, die Zwillingsmädchen. Peggy entdeckt die Liebe zur Medizin, wird Pharmareferentin, „ein Beruf für kommunikative Menschen wie mich“, das Leben ist aufregend, die Arbeit anstrengend und zeitaufwendig, aber „alles macht Spaß“ – und vielleicht folgt sie bald ihrem Mann, der in Dubai als Hotelmanager arbeitet. Der kam übrigens aus dem Westen, „also, wir sind so eine richtige Ost-West-Verbindung“.
Die Jahre seit dem holden Lächeln auf dem Jubiläumsbären sind wie im Fluge vergangen, „die Zeit rennt, und es passiert so viel“. Ihre Generation denke oft noch in Ost-West-Kategorien, „das Zusammenwachsen passiert mit unseren Kindern, also mit der nächsten Generation ändern sich auch die Zeiten“. Was ist dabei stetig, und was bleibt? Die beständige Liebe zur wiedervereinigten Geburts- und Heimatstadt. „Berlin ist 20 Jahre nach dem Jubeljahr der spannendste Ort in Deutschland, weil er so viele Gegensätze hat, so unfertig ist und so überaus lebendig“.
Bei der Erinnerung ans Jubiläum in zwei unterschiedlich regierten Stadthälften kommen einem schon sehr komische Dinge in den Sinn. Jede Seite wollte die beste sein. Es war das Jahr der zweifachen Selbstdarstellung. Den Nutzen hatten die Berliner. Im Osten saß Kunstfreundin Angelika W. mehrere Tage und Nächte auf einem Klappstühlchen am Gendarmenmarkt, um beim Kartenvorverkauf für nie zuvor erlebte, attraktive Gastspiele von „Westkünstlern“ von den Wiener Philharmonikern bis zur Mailänder Scala und Leonard Bernstein die Erste zu sein. „Manchmal treffe ich noch Leute, die sich damals in die kulturelle Wartegemeinschaft eingereiht hatten“, sagt Angelika heute, „dann gibt es immer ein lustiges Hallo: Waren Sie damals nicht unsere Nummer eins?“ Lang ist die Liste der kleinen Bestechungsgaben, die für ein paar Karten fürs Wiener Gastspiel von „Cats“ oder für Loriots Auftritt im Palast der Republik die Besitzer wechselten, und bei seinem Konzert verulkte Udo Jürgens „die Leute, die mich eigentlich gar nicht kennen dürfen“. Seine Ode an „Ihr von Morgen“, an die Jugend, die endlich neue Wege geht, riss das Publikum von den Sitzen.
Diese Art Kunsthunger hatte der Westen nicht, da gab es das alles. Der damalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen erinnert an das Bleibende, das im Feierjahr entstand: Deutsch-japanisches Zentrum, das Ensemble in der Fasanenstraße, das Wrangelschlösschen, der Carillon-Turm im Tiergarten, der Berlin-Orden und die umstrittenen Skulpturen von Wolf Vostell am Ku’damm. Im Osten entstand das ganze Nikolaiviertel samt Kirche, kam der Schiller vors Schauspielhaus oder das Grandhotel in die Friedrichstraße, in dem es sogar ein „Jagdzimmer“ mit einer Orgel gibt.
„Mein Traum war damals, einmal mit meinen Kindern durchs Brandenburger Tor zu gehen“, sagt Eberhard Diepgen – „das ist drüben als Provokation und bei uns als naiv angesehen worden“. Das innerstädtische Spannungsverhältnis hatte viele Facetten: „Es gab das Problem, dass Ministerpräsidenten und Bürgermeister aus dem Westen alle Einladungen nach Ost-Berlin bekommen hatten und auch annehmen wollten, aber der Einzige, der aus Statusgründen nicht hingehen durfte, war der Regierende Bürgermeister“, sagt Diepgen. Die Tatsache, dass wir dann gegenseitige Einladungen mit Honecker abgegeben haben, war eine statusrechtlich höchst umstrittene Frage. Ich behaupte mal, dass die Amis und die Russen das gemeinsam boykottiert haben“. Statusrechtlich war das alles ein kompliziertes Gewirr: Was macht Honecker eigentlich, wenn er nach West-Berlin kommt, in welcher Eigenschaft tritt er auf? „Der Regierende Bürgermeister konnte nicht mit dem Bürgermeister von Ost-Berlin verhandeln, Partner war in der Praxis immer Honecker, mit der Gefahr, dass die Dreistaatentheorie unterstützt wird“, erinnert sich Eberhard Diepgen. Dann wollten sie den DDR-Oberen bei einem Festessen im Schloss Charlottenburg reden lassen, „und da haben wir gesagt: Um Himmels willen, dann schmeißen die West-Berliner vielleicht so viel Eier auf den Honecker, dass wir ein riesiges Sicherheitsproblem haben. Drei Tage lang haben wir darüber diskutiert, ob wir nicht vielleicht etwas zu viel Mut bei der ganzen Sache haben“.
Am Ende: keine Feier, keine Eier, jeder macht seins. Im Westen gaben sich die Staatschefs der Siegermächte die Klinke in die Hand, es startete eine Etappe der Tour de France („weil wir zeigen wollten, dass bei uns alles möglich und West-Berlin eine normale Stadt ist“, so Diepgen) – im Osten: viel Kultur, eine neue Altstadt und am „Gründungstag“, dem 23. Oktober, ein Staatsakt im Republikpalast. Wider alle Zwänge nahmen als Vertreter der Alternativen Liste Wolfgang Wieland und Gabriele Vonnekold daran teil, in seinem Bundestagsbüro erzählt uns Wieland 20 Jahre später, dass alles sehr feierlich und steif war – als größtes Sicherheitsproblem erwies sich dabei, dass die AL-Menschen aus der westlichen Welt darauf bestanden, mit dem Fahrrad vorgefahren zu kommen. Das brachte das Protokoll in Bedrängnis, zwischen all den Volvos vielleicht klapprige Fahrräder? „Jedenfalls haben sie uns die am Grenzübergang abgenommen, gegen Quittung, und dann wurden wir im Auto zum Palast chauffiert“. Die Feiern? „Kindsköpfigkeit auf beiden Seiten“.
Erst zwanzig Jahre sind seitdem vergangen? Feiern wir doch noch einmal, nun in der neuen, vereinten Stadt und ganz anders, unkompliziert. Vielleicht 2014? Dann wird Berlin 777 ...!
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