Interview: „Geschichten sind wie Songs“
Der vielfach preisgekrönte australische Bilderzähler Shaun Tan, von dem inzwischen drei Bücher auf Deutsch vorliegen, spricht im Interview über seine Lust am Stilwechsel und das peinliche Gefühl, als Erwachsener in der Öffentlichkeit Bildgeschichten zu lesen.
Sind es Comics? Bilderbücher? Illustrierte Geschichten? Die surrealistisch angehauchten Erzählungen des mit zahlreichen renommierten Buchpreisen ausgezeichneten Australiers Shaun Tan (35) entziehen sich eindeutigen Zuschreibungen. Mit der wortlosen Auswanderergeschichte „Ein neues Land“, der fantastischen Wort-Bild-Collage „Die Fundsache“ und der Kurzgeschichtensammlung „Geschichten aus der Vorstadt des Universums“ sind im vergangenen Jahr drei Meisterwerke des Autoren und Künstlers auf Deutsch erschienen, allesamt beim Hamburger Carlsen-Verlag. Mit Tan, der auch an der künstlerischen Konzeption des Disney-Animationsfilms „Wall-E“ mitwirkte, sprach Lars von Törne.
Ihre Erzählungen zeichnen sich durch eine besondere Balance von Worten und Bildern aus. Was steht am Anfang?
Es beginnt immer mit einem Bild. Oft ist es nur eine Idee, ein Tagtraum. Dann beginne ich zu zeichnen, daraus entstehen, wenn es gut läuft, Geschichten.
Zum Beispiel?
Wenn ich mir das Telefon da in der Ecke angucke, ist es anfangs nur ein Telefon.Wenn ich es aber zeichnete, würden in meinem Kopf Geschichten entstehen, die von der Geschichte der Telekommunikation handeln oder davon, wie merkwürdig es ist, dass wir ein bananenförmiges Ding an unser Ohr halten, um mit anderen Menschen in Kontakt treten.
Und daraus entwickeln Sie Ihre Bücher?
Ja. Bei „Ein neues Land“ hatte ich anfangs diese Traumbilder im Kopf, dazu kam die Idee, eine Auswanderergeschichte zu erzählen. Fantasiebilder mögen schön anzuschauen sein, aber auf Dauer sind sie nicht interessant genug für ein Buch. Daraus entwickelte ich dann im Fall dieses Buches eine Form, die anfangs noch mehr Textelemente hatte, wie ein Interview mit einem älteren Einwanderer. Aber bei der Arbeit daran merkte ich dann, dass es ohne Text besser funktioniert und eine universalere Botschaft hat.
Wie die, was es bedeutet, wenn jemand seine Heimat verlässt und sich in einer neuen Gesellschaft einlebt?
Ja, in dem Fall war als erstes ein Bild in meinem Kopf von einem Mann, der sich einer fremdartigen Kreatur gegenübersieht und nicht genau weiß, was er tun soll. Das ist ein roter Faden, der sich durch viele meiner Arbeiten zieht und mich auch persönlich beschäftigt. Ein Mensch, der mit einem Problem konfrontiert ist. Das können persönliche oder allgemeine Probleme sein. Auf jeden Fall führen sie oft zu interessanten Geschichten, weil wir eine Lösung finden müssen. Das gilt für das Buch „Die Fundsache“, wo jemand etwas findet, zu dem er sich hingezogen fühlt und es zugleich loswerden will, aber es gilt noch viel mehr für „Ein neues Land“: Das Buch handelt auch davon, dass es nicht ausreicht, einfach zu beschreiben, welches die Herausforderungen beim Thema Einwanderung sind. Ich wollte auch Lösungen aufzeigen. Wenngleich es nie einfache, saubere Lösungen gibt. In „Die Fundsache“ zum Beispiel gibt es zwar eine Lösung für die merkwürdige, verloren wirkende Kreatur, die die Hauptperson eines Tages am Strand findet, aber damit ist das Problem auch nicht komplett gelöst. Und in „Ein neues Land“ zeige ich, dass es eine Sache ist, aus einem Land auszuwandern und schwierige oder gefährliche Situationen hinter sich zu lassen – aber dass damit noch lange nicht gesagt ist, wie man in einem anderen Land neu anfängt. Ich habe anfangs viele Illustrationen gemacht, die Schreckensvisionen einer futuristischen Welt zeigen. Bücher wie Orwells „1984“ und Ray Bradburys Bücher haben mich immer fasziniert. Aber ich denke, eine viel größere Herausforderung als die Kritik an der Welt um uns herum ist es, eine utopische Welt zu schaffen, die besser sein soll. In „Ein neues Land“ habe ich versucht, so eine utopische, aber nicht naiv-idealistische Welt zu entwerfen.
Wieweit reflektiert dieses Buch mit seiner Einwandererthematik Ihre eigene Familiengeschichte?
Ich habe sehr viele Erfahrungen meiner Eltern benutzt, vor allem von meinem Vater. Der kam in den 60er Jahren als Chinese aus Malaysia nach Australien, meine Mutter stammt aus einer englisch-irischen Familie. Zu Beginn der Arbeit an dem Buch habe ich mich vor allem mit der Geschichte der chinesischen Einwanderer nach Australien beschäftigt, dann wurde es thematisch immer breiter. Aber viele Szenen sind direkt den Erfahrungen meines Vaters nachempfunden.
Zum Beispiel?
Die Szenen, die die stupide Fabrikarbeit beschreiben, die man als Einwanderer machen muss. Solche Jobs hat er auch angenommen, als er neu im Land war. Ich lasse meinen Vater auch in einigen Szenen direkt auftauchen. Hier, auf diesen Seiten: Er ist der Mann, der hier als Plakatkleber arbeitet. Die Person in dem Buch ist übrigens genau so ungeduldig wie mein Vater, der immer sehr schnell unruhig wird, wenn man etwas nicht sofort so macht wie er es will. Daneben habe ich viele andere Verwandte und Freunde in meinen Büchern verarbeitet. Für fast alle Charaktere in diesem Buch haben Menschen aus meinem Umfeld Modell gestanden. Und für die Hauptfigur stand ich Pate, falls Sie’s nicht schon gemerkt haben.
Sie wechseln oft Ihre Technik, von Bleistift bis zu Schabetechnik und Collagen. Wie entscheiden Sie, welche Form Sie wählen?
Ein häufiger Stilwechsel entspricht der Form der Geschichten in meinem Kopf. Wie Songs, von denen jeder seinen eigenen Klang hat. Wenn ich eine Kurzgeschichte über einen geheimnisvollen japanischen Taucher erzähle, dann verwende ich Bildelemente, die von japanischen Holzschnitten beeinflusst sind.
Andere Künstler konzentrieren sich hingegen darauf, einen Stil zu perfektionieren.
Ich würde gerne noch viel mehr ausprobieren und andere Ausdrucksformen nutzen. Mein Traum wäre, Geschichten mit dreidimensionalen Skulpturen zu erzählen, aber das lässt sich im klassischen Buchformat leider nur schwer umsetzen.
Ihre Arbeiten sind schwer einzuordnen. Kürzlich bekamen Sie den Deutschen Jugendliteraturpreis, aber Ihre Werke sind für Leser jeden Alters zugänglich.
Meine Geschichten sind nicht nur für junge Leser. Aber so werden viele illustrierte Bücher nun mal vermarktet, bei uns und auch in Deutschland. In Frankreich und Japan ist das weniger der Fall. Das wirkt sich sogar auf mein Leseverhalten aus: Ich traue mich kaum, illustrierte Bücher zu lesen, wenn ich mit der Bahn fahre, weil ich Angst habe, die anderen Passagiere denken, ich lese ein Kinderbuch. Das ist ein Problem, das nicht illustrierte Literatur so nicht hat. Eines meiner Lieblingsbücher ist Orwells „Farm der Tiere“. Das bekam ich als Kind vorgelesen und finde es immer noch großartig. Diesen Roman würde niemand ausschließlich als Kinderbuch ansehen.
Shaun Tans Bücher erscheinen auf Deutsch im Carlsen-Verlag, mehr unter diesem Link.
Shaun Tans Website findet sich unter diesem Link.
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