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Güner Balci.
© Doris Spiekermann-Klaas

Güner Balcis neues Buch "Aliyahs Flucht": Geschichten aus der Parallelgesellschaft

Kampf der Kulturen: Güner Balci legt mit „Aliyahs Flucht“ ihr drittes Buch vor. Eine Begegnung mit der mutigen Journalistin, die einer jungen Frau ein neues Leben ermöglicht hat.

Ein Wort zu viel kann Leben gefährden. Das klingt dramatisch. Ist aber die nackte Wahrheit an diesem sonnigen Morgen im Café Oslo am Nordbahnhof. „Ich habe schon ziemlich viel offengelegt, das bereitet mir manchmal unruhige Nächte“, sagt die Journalistin und Autorin Güner Yasemin Balci. Sie darf nichts preisgeben, was Rückschlüsse auf die Identität oder gar den Aufenthaltsort ihrer Protagonistin zuließe. Die heißt im Buch Aliyah, ist Kurdin und hat einen fatalen Fehler begangen: sich in den falschen Jungen verliebt.

Dimi ist Grieche: weder Teil der Verwandtschaft noch Muslim. So etwas bringt Schande über die Familie und kann tödlich enden. Für das Mädchen. „Vielleicht hätte sich Shakespeare bei seinem Drama über die verbotene Liebe zwischen Romeo und Julia heute nicht mehr für die italienische Stadt Verona, sondern für Berlin-Neukölln, Essen-Katernberg, Köln-Mülheim oder Bückeburg entschieden“, schreibt Balci in „Aliyahs Flucht“ (Fischer Verlag, 256 S., 12,99 €).

Sie hat der jungen Frau als engste Vertraute geholfen, sich von ihrer Familie zu lösen und unterzutauchen. Womit zumindest ein shakespearesches Ende vermieden wurde. Dazu gehört Mut, zumal irgendwer aus Aliyahs verzweigter Verwandtschaft die Reportage lesen und trotz aller Verfremdungen von Namen, Orten und Zeiten eins und eins zusammenzählen könnte. Dann bekäme Balci Stress. „Wäre nicht das erste Mal“, entgegnet sie, „ich bin geübt vor allem im Umgang mit islamistischen Bedrohungen“.

Die ereilten sie nach einem Fernsehbeitrag über einen Kreuzberger Hassprediger. Oder nachdem der Neuköllner Salafist Ferid Heider gegen sie gehetzt hatte. Mitglieder der fundamentalistischen Hizb ut Tahrir gingen sie auf der Straße an, „auf Dauer anstrengend“, sagt Balci. Sie wohnt schon eine Weile nicht mehr in Neukölln, wo sie jahrelang in einem Mädchentreff gearbeitet hat, verfügt aber noch über ein gut funktionierendes Informantennetz vor Ort. „Das klingt stasimäßig“, lächelt sie. Ist aber hilfreich. So wusste sie, wenn männliche Mitglieder aus Aliyahs Familie über längere Zeit verschwunden waren. Sprich: sich auf die Suche nach der ehrlosen Tochter gemacht hatten.

„Aliyahs Flucht“ blickt in eine muslimische Parallelgesellschaft

„Aliyahs Flucht“ ist Balcis drittes Buch nach „Arabboy“ und „Arabqueen“. Es blickt wie die Vorgänger in ein muslimisches Milieu der Unterdrückung und Frauenverachtung, der Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen. Eine Geschichte aus der Parallelgesellschaft, um die es gerade still geworden ist. In Balcis Augen liegt das nicht daran, dass sich die Verhältnisse gebessert hätten. „Für uns steht außer Frage, dass unsere Kinder ein Recht auf individuelle persönliche Entwicklung haben“, sagt sie, „aber nebenan wohnt das Mittelalter.“

Sie selbst ist „null religiös erzogen“ und hält das für ein großes Glück. Im weiteren Familienkreis hat sie durchaus jene archaischen Rollenbilder kennengelernt, die ihr zuwider wurden und hinter denen vor allem die Angst vor der sexuellen Selbstbestimmung der Frau steht. Für Balci „der Dreh- und Angelpunkt aller Probleme, die wir mit der muslimischen Welt haben.“ Das Thema beschäftigt sie schon lange. Gerade dreht sie einen Film darüber, für den sie den Mufti der Grande Mosquée de Paris interviewt hat, Dalil Boubakeur. „Ein weiser alter Herr, der mir sagte, die muslimischen Männer hätten die ödipale Phase nie überwunden“, erzählt Balci. Für sie gebe es nur die Übermutter, die Heilige. Oder die Hure. Den Weibsteufel. Sie zitiert in dem Zusammenhang den Buchtitel ihrer Kollegin Seyran Ates: „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“.

Balci schafft sich mit ihren Ansichten Gegner

Klar, dass Balci sich mit ihren Ansichten Gegner schafft. Nicht nur unter den Strenggläubigen, sondern vor allem im Lager der „linken Kulturrelativisten“, wie die Journalistin jene nennt, „deren einziger Kontakt zur muslimischen Lebenswelt der Kauf von Knoblauchcremepaste ist“. Diese werfen ihr gern Rassismus vor, das Befeuern von Islamophobie. „Wir schüren Rechtsextremismus, indem wir so tun, als gäbe es die Konfrontation zwischen den Kulturen nicht“, hält Balci dagegen. „Aber es gibt sie!“ Es ist ja nicht so, als würde Balci migrantische Erfolgsgeschichten ausblenden. Oder Initiativen, die viel bewegen – wie Kazım Erdoğans Neuköllner Selbsthilfegruppe „Väter im Aufbruch“ für türkische Männer der ersten Einwanderergeneration oder die jungen muslimischen „Heroes“, die sich gegen „Unterdrückung im Namen der Ehre“ wenden.

Balci betont immer wieder, „dass ein Großteil der Menschen mit muslimischen Wurzeln, die hier eingewandert sind, ein relativ gutes Leben führen.“ Sie ist dennoch überzeugt, „dass die allermeisten noch viel mehr erreichen könnten, wenn wir diese gesellschaftlichen Schranken zwischen uns abbauen würden.“

Kein leichtes Unterfangen. Das hat Balci selbst zu spüren bekommen, als sie 2011 ihre berühmt-berüchtigte „Aspekte“-Reportage mit Thilo Sarrazin drehte. Der Plan war damals, ein Jahr nach dem großen Sturm in Kreuzberg Begegnungen, durchaus auch Dispute zwischen dem „Deutschland schafft sich ab“-Pöbler und den Geschmähten zu ermöglichen. Es kam aber nur zu Konfrontationen. Nicht zuletzt weil ein Kreuzberger Grünen-Politiker, wie Balci erzählt, eine Störfraktion mobilisiert hatte. Am Ende konnten sich durch die Reportage all jene bestätigt fühlen, „die sowieso glauben, dass die Migranten alle bekloppt in der Birne sind“, stöhnt sie.

Güner Balcis eigentlicher Kampf ist aber ein anderer und das schon lange: Bewusstsein zu schaffen für die Situation von Mädchen, denen es wie Aliyah ergeht. Und die in vielen Fällen weniger Glück und Hilfe haben. Balcis Heldin geht es heute gut. Sie ist noch mit ihrem Freund zusammen. „Die beiden haben viele Pläne“, erzählt Balci. „Und werden wohl perspektivisch das Land verlassen.“

Lesung heute, 10. 11., 20 Uhr im Heimathafen Neukölln.

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