Kultur: Geschichte eines Aufstiegs
Auf der Wendeltreppe der DNS kletterte das Leben, der Mensch und die Wissenschaft nach oben. Vor 50 Jahren wurde die Doppelhelix entdeckt
„Einst dachten wir, unser Schicksal steht in den Sternen. Jetzt wissen wir, dass es von unseren Genen bestimmt wird – jedenfalls zu einem großen Teil.“ James Watson, 1989
Es war ein kühler Tag im Frühjahr, als die Welt vom Geheimnis des Lebens erfährt. In London erscheint an diesem 25. April 1953, einem Sonntag, die Nummer 4356 des Wissenschaftsmagazins „Nature“. Auf Seite 737 findet sich der Aufsatz „Molekulare Struktur der Nukleinsäuren“ der beiden unbekannten Nachwuchsforscher James Watson, 24 Jahre alt, und Francis Crick, 36 Jahre, vom Cavendish-Laboratorium der britischen Universität Cambridge.
In der linken unteren Ecke der Seite ist ein kleines Diagramm abgedruckt. Es zeigt eine Art molekulare Wendeltreppe. Die Treppenstufen sind die Basenpaare, die Außenläufe der Treppe, gleichsam ihr Rückgrat, sind die beiden Phosphat-Zucker-Ketten, erklärt die Bildunterschrift. Es ist die Desoxyribonukleinsäure, kurz DNS, der biochemische Speicher der Erbinformation. Eine Ikone der Moderne ist geboren. Gezeichnet hat sie Odile, Francis Cricks Frau. Eine Seite im Fachblatt „Nature“, mehr nicht.
Und die Welt reagiert nicht. Vorerst nicht. Kaum jemand nimmt von der Studie Notiz. Eine einzige große britische Zeitung veröffentlicht einige Wochen später einen knappen Beitrag über eine „aufregende Entdeckung“, die erklären könne, „warum SIE sind, wer Sie sind“.
Warum wir sind, wer wir sind. Das ist die zentrale Botschaft der DNS. Heute, 50 Jahre nachdem die wahre Gestalt des Erbmoleküls zum ersten Mal ins Licht der Öffentlichkeit trat, klingt das so selbstverständlich wie anmaßend. Natürlich ist es schon fast Kinderwissen, dass die DNS den Bauplan für unseren Organismus enthält. Sie hat zentrale Bedeutung für unser Leben, und ihr Einfluss wird noch weiter wachsen, je besser wir sie verstehen. Doch es wäre auch anmaßend, zu behaupten, dass die Gene allmächtig sind.
Aber noch sind wir in den 50er Jahren. Erst als sich herausstellt, wie eng die DNS mit der Herstellung von Proteinen verknüpft ist, erwacht das Interesse der Wissenschaftler an dem Strickleiter-Molekül. Es waren vor allem Watson und Crick selbst, die die Bedeutung ihrer Forschung frühzeitig erkannten, und ein paar wenige Insider.
Was es bedeutet, der Erste zu sein
Das Forschergespann ahnte, was es bedeutete, der Erste zu sein. Das wird an dem einen legendär-lakonischen Satz gegen Ende ihres Aufsatzes deutlich: „Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die spezifische Paarbildung (gemeint sind die Basenpaare Adenin und Thymin sowie Guanin und Cytosin, also die Bestandteile des genetischen Codes) sogleich an einen möglichen Kopiermechanismus für das genetische Material denken lässt.“
Bis dahin hatten viele Wissenschaftler geglaubt, dass die Eiweiße Träger der genetischen Information seien und es irgendwie schafften, sich zu vermehren. Und das, obwohl schon 1944 eine amerikanische Forschergruppe bewiesen hatte, dass DNS Erbinformation übertragen kann.
Warum sind wir, wer wir sind? Auf diese Frage haben wir seit dem 25. April 1953 eine verblüffend einfache Antwort: DNS. Dieses Molekül vereint in sich zwei Funktionen. Es dient als Bauplan der Proteine, der Handwerker und Bausteine des Lebens. Damit legt es die Eigenschaften des Organismus fest, von der Augenfarbe bis zu den Hirnwindungen, von den Knochen und Muskeln bis zum Verdauungssystem. Niemand hat das radikaler formuliert als Richard Dawkins, der Evolutionstheoretiker aus Oxford: „Wir, und alle anderen Tiere, sind Maschinen, geschaffen von unseren Genen.“
Zugleich ist die DNS die Trägerin des Erbguts. Sie besitzt die Fähigkeit, sich selbst zu kopieren. Die Wendeltreppe DNS wird zum Reißverschluss, an dessen beiden offenen Enden sich die Doppelstränge wieder komplettieren. Aus eins mach zwei – das ist der „mögliche Kopiermechanismus für das genetische Material“, auf den Watson und Crick aufmerksam geworden waren. Die Form des Moleküls erklärt seine Funktion. Eine Eigenschaft, wie sie typisch für gutes Design ist.
Während also die Produkte der Gene – die Proteine – ein kurzes Leben haben, das sich nach Stunden, Tagen oder allenfalls Monaten bemisst, schafft es die DNS, ihre eigene Gestalt nahtlos über die Zeit zu retten. Sie ist das „ewige Molekül“. Von der DNS in unseren Zellen führt eine Ahnenreihe zurück zu den ersten sich selbst vermehrenden Lebewesen vor 3,5 Milliarden Jahren.
James „Jim“ Watson prägt entscheidend die aufkommende Molekularbiologie. Sie hat mit der DNS ihren Fixstern gefunden. Die Doppelhelix wird das Sinnbild eines unaufhörlichen Aufstiegs im Gefüge der Wissenschaften und im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Während Physik, Chemie und Biochemie, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert rasch entwickeln, wesentliche Impulse aus Deutschland oder dem deutschsprachigen Raum bekommen, gilt dies für die Molekularbiologie kaum noch. Zwar sind es Emigranten wie Erwin Chargaff, Max Perutz, Max Delbrück und Erwin Schrödinger, die an ihrer Wiege stehen. Aber die neue Disziplin spricht von Anfang an Englisch.
Eine ganze Wissenschaftlergeneration steigt auf der DNS zu immer neuen Stufen der Erkenntnis empor, angeführt von dem jungenhaften, rastlosen „Jim“ mit den neugierigen Augen und dem losen Mundwerk. 1957 formuliert sein Mitstreiter Crick das „zentrale Dogma“ der Molekularbiologie: DNS enthält die Information zum Bau von Eiweißen; diese Information wird zunächst in RNS und dann in Proteine überschrieben. Anfang der 60er Jahre wurde der genetische Code „geknackt“, also das System, nach dem jeweils drei biochemische Buchstaben die Bauanleitung für eine ganz bestimmte Aminosäure enthalten. Diese Aminosäuren wiederum werden in den Eiweißfabriken, den Ribosomen, zu Proteinen zusammengebaut.
Kleben, schneiden, montieren und kopieren: In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wird die Werkzeugkiste für die neu entstandene Wissenschaft der Gentechnik stetig erweitert. Ein wesentlicher Durchbruch kommt 1983. Auf einer Nachtfahrt zwischen San Francisco und La Jolla hat der Biotechniker Kary Mullis einen Gedankenblitz. Beim Nachdenken über ein anderes Problem wird ihm plötzlich klar, wie man jeden beliebigen Abschnitt der DNS unendlich oft vermehren kann. Das Ergebnis ist eine Art Schnellkopierer für Erbsubstanz, die Polymerase-Kettenreaktion. Sie ist unerlässlich, um Gene zu testen und zu studieren – und Grundlage für den genetischen Fingerabdruck.
Auch das Lesen der Erbinformation wird industrialisiert, so dass das von James Watson ausgerufene Humane-Genom-Projekt, die Entzifferung sämtlicher drei Milliarden Buchstaben unseres Erbguts, nicht, wie zunächst befürchtet, in einem Desaster endet, sondern mit einer Feierstunde im Weißen Haus. Heute erregen Gen-Chips die Branche – mit Zehntausenden verschiedenen DNS-Schnipseln bestückte Glasplättchen, die detaillierte Gen-Analysen ermöglichen.
Das Interesse an der DNS ist noch immer ungebrochen. Forscher benutzen DNS-Abschnitte, um Lebewesen zu vergleichen und Stammbäume zu entwerfen, genetische Wurzeln von Krankheiten werden freigelegt, DNS gilt als kommender Baustein für Mikro-Computer und Nanomaschinen, und die Wissenschaftler studieren, wie die Zelle Schäden an ihrem kostbarsten Molekül behebt und die DNS in ihr komplexes Netzwerk einfügt.
Macht die DNS das Leben? Oder das Leben die DNS? Diese Fragen zielen auf Cricks „zentrales Dogma“. Schon lange ist klar, dass die Formel „Ein Gen entspricht einem Merkmal“ zu stark vereinfacht ist. Ein Gen gestaltet oft mehrere Merkmale, und ein Merkmal kann von vielen Genen gestaltet sein. Das Leben, etwa das Innere einer Zelle, und die Gene der DNS halten intensive Zwiesprache. Inzwischen haben die Forscher gelernt: man darf die Erbinformation nicht absolut setzen, man muss sie als Teil eines Netzwerks sehen.
Das perfekte Molekül
Leben ist keine Einbahnstraße, die von der Kommandozentrale, der DNS, in die Stadt der Proteine führt. Entthront worden ist die Doppelhelix in den letzten Jahren zwar nicht – aber unumschränkt regiert sie nicht mehr die Welt der Labors. Nur draußen weiß man es noch nicht so richtig.
Die DNS ist ein perfektes Molekül. So ästhetisch vollkommen wie unverwechselbar, verkörpert ihre Geometrie Dynamik und Aufstiegswillen unserer Spezies. Das macht sie zum idealen Symbol, zum Objekt für Graphiker und Künstler. Auf Karikaturen ringen Menschen mit DNS wie Laokoon mit der Schlange, verwandelt sich die Doppelhelix in Geldscheine oder windet sich symbolträchtig um Adam und Eva. „Die Mona Lisa der modernen Wissenschaft“ nennt Martin Kemp, Kunsthistoriker in Oxford, die DNS.
Davon ist noch nichts zu ahnen, als Watson und Crick 1953 vor ihrem selbst gebastelten DNS-Modell in ihrem Labor in Cambridge fotografiert werden. Beide wirken unbekümmert und zu Späßen aufgelegt, als wollten sie sagen: „Das ist uns so eingefallen. Seht zu, wie ihr damit fertig werdet.“ Ganz im Stil der 50er Jahre erscheint ihre selbstgebastelte DNS aus Pappe, Schrauben und Draht als eine spartanische, abstrakte Skulptur. Der Schöpfungsakt als molekularer Reißverschluss, dargestellt mit einem Eisengestänge – profaner lässt sich wohl nicht dekonstruieren, was Generationen von Dichtern und Denkern in Atem hielt. Wie entsteht das Leben? Wie entwickelt es sich? Noch Goethe und mit ihm die deutsche Romantik waren von Urformen ausgegangen, von Archetypen, die dem Leben ihre Gestalt aufprägen. Letztlich ging es dabei um körperlich nicht fassbare, geistartige Kräfte. Die Welt, das Leben war beseelt.
Watson und Crick aber kehren das Verhältnis um. Von nun an ist es nicht mehr der Geist, der das Leben schafft, sondern das Leben, das den Geist, die Psyche erzeugt. Es ist wohl kein Zufall, dass sich Crick später der Erforschung des Bewusstseins zuwendet. Auch hier will er die eine entscheidende Lösung des Rätsels finden, so wie bei der DNS – bisher mit mäßigem Erfolg.
Der materialistische Schock des Jahres 1953 hat bis heute Spuren hinterlassen. Die Abneigung, die gerade in Deutschland der Molekularbiologie immer noch entgegenschlägt, hat auch darin ihre Wurzeln. Wie kann man das Leben auf ein – wenn auch komplexes – Zusammenspiel von Molekülen reduzieren? Wo bleibt das Geheimnis, wenn sich die Natur auf ein Textprogramm reduziert? Und da ist das Erbe der Eugenik. Noch immer lastet es auf der Biologie. Zwar sind Watson und Crick Angehörige einer neuen Generation. Aber auch sie stehen im Schatten einer Bewegung, der man bestenfalls Naivität, in vielen Fällen aber Menschenverachtung und Rassismus unterstellen muss. Eugenik: das ist die pseudowissenschaftliche Idee, die Erbanlagen des Menschen zu verbessern, den Menschen wie ein Tier zu züchten. Sie entwickelt sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf dem Boden der Darwinschen Lehre vom Kampf ums Dasein und dem Überleben der Besten. Verbrechen, Krankheiten und soziale Missstände werden auf das „Blut“ zurückgeführt (heute würde man sagen: die Gene). Der Kampf gegen die Degeneration wird mit zunehmend brutalen Maßnahmen geführt, etwa mit Sterilisierungen. Und er endet in den Konzentrationslagern.
Mit Watson und Crick schlägt die Stunde der exakten Wissenschaft vom Leben. In den kommenden Jahrzehnten wird sie sich von der Gesellschaft fernhalten und sich in Selbstbeschränkung üben. Erstmals sind es die Forscher selbst, die sich Fesseln anlegen: bei der Asilomar-Konferenz 1975 berät die Elite der neuen Disziplin der Gentechnik über Sicherheitsmaßnahmen für die Labore, nachdem zuvor ein Moratorium den Forscherdrang gebremst hatte.
Die Umwelt macht den Menschen
In diesen Jahren dominiert die „Sozio-Theorie“: die Gene sind nichts, die Umwelt ist alles. Der Mensch ist ein weißes Blatt Papier, auf das die Gesellschaft ihre Notizen schreibt. Wer an Gene glaubt, gilt als reaktionär. Denn die Gene ändern sich nicht. Die Welt muss sich aber ändern.
Aber die Euphorie verfliegt. Längst hat sich herausgestellt, dass der Homo sapiens keine beliebig formbare Knetmasse ist und auch unsere genetische Herkunft eine entscheidende Rolle spielt. Schon in den 80er Jahren hat sich eine Renaissance der Gene angedeutet, die zur Jahrtausendwende mit der weitgehenden Vollendung des Genom-Projekts ihren Höhepunkt erreicht. Eine wahre Gen-Manie bricht aus. Plötzlich gibt es für alles ein Gen, jeder Teil der Persönlichkeit schien nun plötzlich von der DNS geprägt zu sein: Erbanlagen für Kranksein, für Schüchternheit, Homosexualität oder Übergewicht. Eine zu einfache Erklärung. Schon sind es die Forscher selbst, die vor einer Überschätzung der Gene und der Möglichkeiten der Genforschung warnen.
Inzwischen vergeht kaum eine Tagung, bei der nicht Wissenschaftler darauf hinweisen, wie sehr die Umwelt die Gene und die Biologie beeinflusst. Die Natur, unsere Natur, ist nicht so statisch, wie bisher gedacht. Das Musterbeispiel für diese neue Art, die Gene zu deuten, ist unsere Sicht auf das Gehirn. Es ist nach dieser Vorstellung eine Art Geistesmuskel, der durch Gebrauch trainiert werden kann, durch seelische Leiden verkümmert und mit Psychotherapie wieder aufgepäppelt werden kann. Natur und Umwelt sind nun versöhnt, sind zwei Seiten einer Medaille.
Und die Zukunft? Bringt sie uns nun doch den neuen Menschen aus dem Gen-Baukasten? Ein Mensch, dessen DNS nicht mehr ein wilder Zettelkasten aus drei Milliarden Jahren Entwicklung ist, sondern ein wohl sortierter Aktenschrank, angefüllt mit Genen aus dem Hochglanzkatalog aller erwünschten Eigenschaften? Wenn es einmal dazu kommen wird, dass der Mensch sich neu erschafft, dann jedenfalls nicht in den nächsten Jahrzehnten. Denn mindestens ein halbes Jahrhundert wird es nach Expertenmeinung noch dauern, bis wir die Botschaft der DNS nicht nur entziffern, sondern auch verstehen. Noch können wir das Buch des Lebens nur stammelnd lesen.
Entsprechend vorsichtig fielen denn auch die Prognosen der meisten amerikanischen Spitzenforscher aus, die das Magazin „Time“ um eine Meinung zu der Frage gebeten hatte, wie die Genetik im Jahr 2053 unser Leben geändert haben wird. Klar ist: Jedermann, der es wünscht, wird sein Erbgut kennen. Ebenfalls wenig Zweifel haben die Wissenschaftler daran, dass die Behandlung mit Medikamenten auf die persönlichen Gene eines Patienten zugeschnitten sein wird.
Aber Ersatzorgane, die Abschaffung des Alters, eingebaute Supergene für Intelligenz und Schönheit zum Preis eines Mittelklassewagens – an so etwas wollen längst nicht alle Wissenschaftler glauben. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in einem vollständigen Utopia leben werden“, schreibt die Neuropsychologin Nancy Wexler von der Columbia-Universität. „Utopia passt nicht zu unserer Persönlichkeit.“ Und vermutlich auch nicht zu unseren Genen.
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