Werkverzeichnis: Gerhard Richter - alle Farben dieser Welt
Gerhard Richter hat ein riesiges Œuvre geschaffen. Jetzt liegt der vierte Band des Werkverzeichnisses vor und zeigt den Weg zu den ersten Erfolgen.
Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Auf keinen Künstler trifft der Spruch so haargenau zu wie auf Gerhard Richter. Ein Gemälde von seiner Hand zu besitzen, ist eine Wertanlage par excellence. Doch warum lässt es der Kunstmarkt goldene Taler regnen, und wen erhebt er zum Superstar? Gerade Richters Lebensweg kann darauf eine Antwort geben – eine ernüchternde. Es ist der ungeheure Fleiß, es ist die Zielstrebigkeit, die diesen Maler auszeichnen. Es ist drittens die Fähigkeit, eine lange Anlaufzeit zu absolvieren, ehe der Erfolg sich einstellt.
1972 zeigte Gerhard Richter im deutschen Pavillon der Biennale von Venedig seine Bildserie der „48 Portraits“. Eingeladen hatte ihn der Kommissar des deutschen Beitrags, Dieter Honisch, der spätere Direktor der Nationalgalerie Berlin. Nur – das Jahr ist 1972, nicht 2017, denn: „Die Resonanz auf seine Präsentation in Venedig empfand Gerhard Richter selbst als eher enttäuschend“, wie Dietmar Elger rückblickend schreibt, im soeben veröffentlichten zweiten Band des Œuvrekatalogs der Werke Richters.
„Keine Galerie“ – fährt Elger fort – „habe sich damals wegen einer Ausstellung gemeldet, kein Sammler sich für den Erwerb eines der Bilder interessiert. Lediglich die ,48 Portraits’ kann der Kölner Galerist Rudolf Zwirner noch während der Biennale an das Aachener Sammlerehepaar Peter und Irene Ludwig verkaufen.“ Heute unvorstellbar!
Mehr als 3000 Arbeiten umfasst Richters Oeuvre
Längst hängen die „48 Portraits“ in jenem Kölner Museum, das nach dem Sammlerpaar Ludwig benannt ist, und Häuser rund um den Globus würden sich darum reißen, die Serie zu besitzen, Sammler sowieso. Doch Richter ist nichts in den Schoß gefallen. Dass das Œuvre des mittlerweile 85-jährigen gebürtigen Dresdners mehr als 3000 Arbeiten umfasst, belegt den immensen Fleiß des vor allem an der Düsseldorfer Akademie ausgebildeten Wahl-Kölners.
Dazu passt der auf sechs Bände angelegte Catalogue raisonné, herausgegeben von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und bearbeitet von Dietmar Elger, dem Leiter des dortigen Gerhard Richter Archivs. Das Werkverzeichnis erfasst in seinen ersten vier Bänden das gesamte Werk bis zum Jahr 1994 und wird durch den jetzt nachträglich erschienenen Band 2 über die Jahre 1968 bis 1976 komplettiert – vorläufig. Denn zwei weitere Bände sind für die Zukunft vorgesehen, der letzte bis „nach“ Richter.
Der Erfolg ließ lange auf sich warten
1968 bis 1976 sind die Jahre, in denen der Maler an die Öffentlichkeit tritt, seine ersten Museumsausstellungen hat und – wie das Beispiel Venedig zeigt – auf Erfolg, zumindest aber kritische Rezeption noch warten muss. Es sind die Jahre, in denen er mit den fotorealistischen Landschaftsdarstellungen, dem exakten, gleichwohl verschwommen daherkommenden Malen nach Fotos für sich Neuland erschließt und sein noch schmales Publikum irritiert, dem er bis dahin vor allem mit den zeitkritischen „grauen“ Bildern, diesen Verfremdungen nach historischen Fotografien, geläufig war.
Den Umschlag des erneut schwergewichtigen Werkkataloges ziert mit „4096 Farben“ das umfangreichste der Farbtafelbilder, die Richter 1973/74 malte, zumeist mit 1024 oder 1025 in glänzendem Lack wie auf Musterkarten aufgetragenen, allerdings nach Zufallsprinzip verteilten Farben. Davor und danach malte Richter Monochromien in Grau, reine Flächen als absolutes Ende von Abbildhaftigkeit – das Ende der Malerei, mit dem der Künstler immer wieder spielt.
Das Werkverzeichnis ist absolut exakt
Solche abrupten Wendungen im Werk sind ein Kennzeichen der Arbeitsweise Richters, der alle Möglichkeiten der Malerei für sich erschlossen hat und anwendet. Übrigens nahm auch die Pedanterie Richters in den hier vorgestellten Jahren ihre endgültige Form an: Da nämlich erfand er sein Katalogisierungssystem, das nicht jedem Bild, sondern einer Bildidee und -serie eine Nummer zuweist und die Variationen innerhalb der Reihe mit Unternummern auflistet. So kommt es, dass der vorliegende Katalogband die Nummern 198 bis 388 aufführt, tatsächlich aber in 715 Abbildungen mehr als die dreifache Anzahl von Arbeiten vorweist.
Nicht nur mit der schieren Anzahl seiner Arbeiten, sondern auch mit einem bis aufs i-Tüpfelchen exakten Werkverzeichnis zu Lebzeiten steht Gerhard Richter einzig dar. Er ist das glatte Gegenteil des Bohémiens, den man im Künstler der Moderne so gerne sieht, und stattdessen ein überlegter Stratege der Bildproduktion.
Ein Stratege ist er auch, was seinen Nachruhm angeht. Aus dem Œuvreverzeichnis hat er sein noch in der DDR entstandenes Frühwerk ausgeschlossen. Immerhin hat Richter zehn Jahre als Maler, als zwar studierender, aber auch bereits praktizierender Künstler in der DDR verbracht, und er malte, wie man durchaus weiß, den damaligen Normen entsprechend. Richter mag verfügen, dieses Frühwerk in einem Katalog unerwähnt zu lassen, der ohne seine Genehmigung gar nicht erscheinen dürfte. Aber es hinterlässt einen unguten, einen vor allen Dingen unsouveränen Eindruck.
Dresden hat Richter nach der Übersiedlung in den Westen geleugnet. Erst lange nach der Wiedervereinigung mochte er wieder hinfahren – und war berührt von der Ernsthaftigkeit, mit der sich die Staatlichen Kunstsammlungen um ihn bemühten. Mittlerweile hat er den Dresdner Museen etliche Arbeiten geschenkt. Und am 19. Mai wird er, unermüdlich, wie er ist, neue Bilder in Dresden vorstellen – seiner Geburtsstadt, mit der er im Alter seinen Frieden geschlossen hat.
Gerhard Richter: Catalogue raisonné vol. 2. Hrsg. und bearbeitet von Dietmar Elger für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2017. 656 Seiten mit 715 Abb., 248 €.