Tanzbiennale in Venedig: Geografie der Gesten
Das Tanzfestival der Biennale von Venedig sucht den Dialog mit den Gemälden alter Meister.
Wer Venedig besucht, sollte unbedingt auch in der Ca’ Rezzonico vorbeischauen. In dem Museum des 18. Jahrhunderts, das an einem der kleineren Kanäle liegt, hängt auch das berühmte Wandgemälde „Mondo novo“ von Giandomenico Tiepolo aus dem Jahre 1791. Der französische Choreograf Jérôme Bel bezieht sich auf das rätselhafte Fresko in seinem Stück „Mondo novo“, das er zur Eröffnung des Tanzfestivals der Biennale (bis 29. Juni) zeigte. Es ist die erste Aufführung aus der Reihe „Aura“: einem Zyklus von fünf Performances, die von Werken italienischer Maler inspiriert sind, die in Venedig aufbewahrt werden. Der künstlerische Leiter der Tanz-Biennale Virgilio Sieni , der auch in seinen eigenen Arbeiten die Kunst der Geste erkundet, hat zu diesem Dialog zwischen alten Meistern und zeitgenössischen Choreografen angestiftet.
Jérôme Bel hat sich bewusst für ein Gemälde entschieden, das kein religiöses Sujet behandelt. „Mondo novo“ stellt eine Menge von schaulustigen Venezianern dar, die sich auf der Straße versammelt, um einem Spektakel zuzuschauen. Man weiß nicht genau, welches, wahrscheinlich handelt es sich um eine Laterna magica. Auffällig ist, dass Tiepolo ein demokratisches Spektrum zeigt: Adelige und Bauern, Alte und Junge, Frauen und Männer. Sie alle drehen dem Betrachter den Rücken zu – mit Ausnahme von zwei Männern, die vermutlich den Maler selbst und seinen Vater Giambattista, ebenfalls Maler, zeigen. „Das Fresko von Tiepolo interessiert mich, weil es das abbildet, was man das Volk nennen konnte“, sagt Jérôme Bel. „Auch mir geht es um die Repräsentation von Gemeinschaft.“
Eine kleinwüchsige Frau im Rollstuhl wird zur Vortänzerin
Verborgen bleibt bei Bel nichts, ihm geht es um Strategien des Sichtbarmachens. Er hat die Aufführung mit 25 Amateuren aus dem Veneto erarbeitet, die sich mit Pailletten- und Lurextops aufgebrezelt haben. Bel lässt sie erst zählen – bis 635! Wenn dann der Tanz beginnt, ist es fast schon eine Erlösung. Es ist immer dasselbe Prinzip: Einer tanzt vor, die anderen versuchen, die Bewegungen nachzumachen, so gut es eben geht. Bel mixt unerschrocken die populären Stile – Bollywood, Volkstanz, Hip-Hop und Jazz Dance – und er stellt die unterschiedlichen Körper und Fähigkeiten aus. Auch eine kleinwüchsige Frau im Rollstuhl tanzt mit und wird sogar zur Vortänzerin. Dabei wird deutlich, dass sie ganz spezifische Fertigkeiten entwickelt hat – und sich sehr wohl musikalisch zu bewegen weiß. Wie schon in früheren Arbeiten plädiert Bel auch in „Mondo Novo“ für eine Demokratisierung des Tanzes.
Das britisch-italienische Duo Jonathan Burrows und Matteo Fargion hat sich von dem Gemälde „Madonna col Bambino e gloria di cherubini rossi“ von Giovanni Bellini zu seinem „Madonna Project anregen lassen. Das Bild, das auf das Jahr 1485 datiert wird und heute in der Gallerie dell’Accademia hängt, scheint schon die Moderne zu antizipieren: zeigt es doch eine Madonna mit einer Gloriole von leuchtend roten Engelsköpfen.
Matteo Fargion bildet sprachliche Assoziationsketten, wobei das religiöse Sujet immer stärker banalisiert wird. Es beginnt mit der Madonna mit Kind auf dem Thron und endet mit der Madonna der moderat Verwirrten, der Ex-Miss-World Madonna oder der Madonna mit der Kalaschnikow. Die sprachlichen Madonna-Variationen ergänzt Burrows mit einer minimalistischen Choreografie aus simplen Gesten und energischen Armbewegungen, die sich allerdings nicht ikonografisch deuten lässt. Die nüchtern-banalen Tänze folgen zwar einer musikalischen Struktur, doch das Duett lebt mehr vom Sprachwitz – und der erschöpft sich bald.
Auch große Tanzkunst war in Venedig zu bestaunen. Saburo Teshigawara und seine Partnerin Rihoko Sato wurden in „Lines“ von der fantastischen Geigerin Sayaka Shoji begleitet, die zunächst Bach und dann zeitgenössische Werke spielte. Wie der Tanz sich hier mit den musikalischen Linien verflechtet und wieder löst, das verleiht dem Abend eine hypnotische Qualität. Und der Japaner bewies, dass er auch mit fast 60 Jahren noch ein exzeptioneller Performer ist.
Virgilio Sieni hat das Tanzfestival, das erstmals von der Fondazione Prada finanziell unterstützt wurde, geöffnet und enger mit der Architektur der Stadt verwoben. Nicht nur in Theatern und Palazzi, sondern auch auf öffentlichen Plätzen fanden Performances statt. Die Flaneure wurden auch schon mal von einer Mozart-Arie angelockt wie bei Anton Lachky. Der Belgier zeigte auf dem Campo Pisani ein Gruppenstück von buffonesker Komik; die Tänzer werden geradezu mitgerissen von der musikalischen Energie. Die Lagunenstadt mutet eh schon wie eine Bühne an. Die Biennale brachte Venedig nun zum Tanzen.
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