Ostsee-Orchester: Gemeinsam atmen
Das Baltic Youth Philharmonic ist eine Stimme für alle neun Staaten, die rund um die Ostsee liegen. Das Ostsee-Orchester tritt erstmals bei Young Euro Classic auf.
Der Dirigent, der da vorne auf dem Pult steht, ist noch ein Student, höchstens 23 Jahre alt – und die Mitglieder des riesigen Orchesters, das er gerade durch Brahms „Akademische Festouvertüre“ leitet, ist kaum älter. Viele sitzen in T-Shirts und Sandalen auf den Stühlen. Da steht einer auf, der selbst noch wirkt wie ein 30-Jähriger, obwohl er auf die vierzig zugeht, klatscht in die Hände und ruft: „Play in the beat, people!“ Kristjan Järvi probt mit dem Baltic Youth Philharmonic im Ferenc-Fricsay-Saal des RBB für eine Tournee, die nach Danzig, Kopenhagen und St. Petersburg führen wird. Alles Ostsee-Städte. Denn darum geht es bei diesem Orchester: Die Musiker stammen aus den neun Anrainerstaaten der Ostsee. Am heutigen Dienstag geben sie ihr Berlin-Debüt bei „Young Euro Classic“ im Konzerthaus am Gendarmenmarkt.
Järvi ist der jüngste Spross einer Dirigenten-Dynastie. Sein Vater Neeme Järvi floh einst vor dem Sozialismus aus Estland in die USA und leitete dort mehrere große Orchester, sein Bruder Paavo erntete vergangenes Jahr viel Lob für die Einspielung der Beethoven-Symphonien mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Kristjan Järvi wird wegen seines Äußeren oft als „John Travolta der Klassik“ beschrieben. Doch was heißt das genau? Vielleicht dies: Mit scheinbar unerschöpflicher Energie jettet er um die Welt. Sein Lächeln ist breit und offen, seine Augen blau wie Gebirgsseen, und wenn er die dunklen Haare an den Seiten zurückstreicht und hinter die Ohren klemmt, dann dürften ihm die Herzen der Zuhörerinnen zufliegen. Nicht gerade unsexy auch sein Credo als Dirigent: „Mein Körper ist mein Instrument“, sagt er. „Alle Teile – Hände, Füße, Nase, Augen – reflektieren die Musik. Die Botschaft muss durch den Dirigenten hindurch zu den Musikern gelangen.“
Bis 2009 hatte Järvi das Wiener Tonkünstler-Orchester als Chefdirigent aufgemöbelt. Doch er wollte etwas Neues machen und gründete vor drei Jahren gemeinsam mit dem Usedomer Musikfestival das Baltic Youth Philharmonic (BYP) – um der Ostsee-Region, der ja auch seine Familie entstammt, eine gemeinsame Identität zu geben. Die ist tatsächlich nicht besonders ausgeprägt, obwohl doch Historiker wie Fernand Braudel die Ostsee als „Mittelmeer des Nordens“ bezeichnen und dort einen zweiten, von Rom unabhängigen Ursprung der europäische Zivilisation vermuten.
Dass sich einst der Eiserne Vorhang quer durch die Ostsee zog, hat sicher auch nicht zur Ausbildung einer gemeinsamen Identität beigetragen. Kristjan Järvi will also mit dem BYP Grenzen einreißen, politische wie musikalische. „Er ist unglaublich energisch, seine Kraft scheint nie nachzulassen“, schwärmt Wojciech Piotr Guminski aus Warschau, der Kontrabass spielt. „Immer wieder schärft er uns ein, die Noten und Taktstriche hinter uns zu lassen und wirklich Musik zu spielen.“ Und Bettina Schleiermacher aus Leipzig, auch sie Kontrabassistin, fügt hinzu: „Es klappt, weil auch die einzelnen Instrumentengruppen gemischt sind. So kommt es zu besonders vielen Kontakten zwischen den Musikern verschiedener Nationalitäten.“
Das BYP funktioniert wie ein Stipendium: Die rund 100 Teilnehmer, deren Altersdurchschnitt bei 23 Jahren liegt, müssen in ihren Heimatländern an einer Musikakademie eingeschrieben sein. Sie bewerben sich jedes Jahr erneut um die Aufnahme. Im Sommer kommen sie für drei Arbeitsphasen zusammen, bei denen Reise, Verpflegung und Unterkunft übernommen werden. Der Auftritt bei „Young Euro Classic“ ist die zweite Phase in diesem Jahr, im September wird das Orchester noch in Usedom zu hören sein.
Für jede Stimmgruppe gibt es eigene Repetitoren, sogenannte Coaches. Auch der Schweizer Saxofonist und Komponist Daniel Schnyder, mit dem Kristjan Järvi schon lange zusammenarbeitet, ist so ein BYP-Coach. Von ihm wird das Orchester in Berlin jetzt ein neues Stück uraufführen, neben der 7. Symphonie von Sibelius und Strawinskys „Sacre du Printemps“. Schnyders Stück „Parkour Musical“ wird sich, erklärt Järvi, vor allem mit der Frage befassen, wie ein Orchester gemeinsam atmen kann.
Nach der Probe fläzt sich der Dirigent entspannt auf dem Sofa. „Letztlich geht es doch darum, wie uns die Musik positiv beeinflussen kann. Heute, im 21. Jahrhundert, sollte es darum gehen, etwas von den Gefühlen, die wir im Pop jeden Tag spüren können, auch auf die symphonische Musik anzuwenden.“ Wann er wieder die Chefposition eines großen Orchesters übernimmt, will er nicht sagen. Nur so viel: Vorerst will er flexibel bleiben, sich nicht binden. Dann reibt er sich die Augen und wirkt, am Ende dieses Tages, doch ein kleines bisschen müde.
Am heutigen Dientsag tritt das BYP um 20 Uhr im Konzerthaus auf.