Biennale Venedig: Geister im Gebälk
Deutschland brav, England lustig, Chile bitterernst: Ein Rundgang über die 55. Biennale von Venedig, die am Samstag eröffnet.
Alle zwei Jahre stehen die Kuratoren und ihre Künstler in Venedig wieder vor der Frage: Wie halten wir es mit den nationalen Pavillons? Politisch, ökologisch, spielerisch? Welche Botschaft schicken wir hinaus? Denn die kleinen Kunstbehausungen in den Giardini sind für einen Sommer die ganz große Welt. Diesmal nehmen 88 Nationen an der Biennale teil, 28 am traditionellen Ort in den Giardini, 24 im Arsenale und 36 auf den Rest der Stadt verteilt, in Palazzi, Klöstern, ehemaligen Werkhallen. Die Gemütsverfassung ganzer Staaten wird in die Selbstdarstellung hineingelesen. Das macht die Biennale fürs Publikum so spannend und für ihre Macher so schwer. Das Schaulaufen der Länder ist zwar nur ein Spiel und doch wie vor über hundert Jahren ein Wettbewerb um die gelungenste Präsentation.
Deutschland will es bei dieser 55. Ausgabe, die am Samstag eröffnet und bis November läuft, wieder besonders gut machen. Als Verweis auf das Jubiläum des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages wurde mit Frankreich der vis-à-vis gelegene Pavillon getauscht, als würden politische Bande, Jahrestage staatlicher Allianzen in diesem heiteren Garten am Canal Grande tatsächlich zählen. Welch ein Irrtum. Die Besucher interessieren solch Ehrbekundungen kaum.
Die Franzosen haben den deutschen Pavillon mit Anri Sala in einen riesigen Klangkörper umgewandelt: in eine Hommage an die Musik Maurice Ravels, das innere Gespür jedes Menschen. Das symbolische Taktieren endet zum Glück im Inneren des Gebäudes. Im deutschen Pavillon allerdings wird die political correctness noch weiter getrieben: vier Künstler aus vier Himmelsrichtungen, die in unserem ach so weltoffenen Land leben oder zumindest berufliche Verbindungen haben. Wie langweilig, wie brav.
Susanne Gaensheimer, die mit der Schlingensief-Schau 2011 den goldenen Löwen gewann und zum zweiten Mal als Kuratorin waltet, hat mit dem Chinesen Ai Weiwei, dem Afrikaner Santu Mofokeng, der Inderin Dayanita Singh und dem in Deutschland lebenden Romuald Karmakar (französische Mutter, iranischer Vater) zwar interessante Künstler geholt, doch gelingt ihr mit dieser Wahl kein Statement, keine klare Behauptung im Ländervergleich. Das Ergebnis ist eine sehenswerte Ausstellung, die sie genauso gut daheim in Frankfurt in ihrem Museum für Moderne Kunst hätte zeigen können.
Ai Weiwei drängt mit seiner meterhohen Installation aus traditionellen dreibeinigen Hockern im Zentrum des Pavillons die Kollegen zu deren Ärger an den Rand. Die Schwäche des allzu beliebigen Beitrags des Superstars, der noch zwei weitere Stätten in der Stadt bespielt, wird jedoch zur Stärke der anderen Künstler. Singhs Porträt des träumend vor sich hinsummenden Eunuchen Mona dringt ungleich tiefer. Und Mofokengs Fotoreportage der Zerstörung geheiligten Landes für Rohstoffabbau besitzt eine weit nachhaltigere Poesie. Nur der Dokumentarfilmer Kamarkar erzählt eine Geschichte aus Deutschland. Er ließ die einpeitschende Rede eines Hamburger Imams übersetzen und von einem Schauspieler vortragen. Dazu zeigt er Aufnahmen von einer NPD-Demo am 60. Jahrestag des Kriegsendes in Berlin, Momentaufnahmen, die verstören. Vier Künstler, vier Empörungen – ein wohlfeiles Konzept.
Im chilenischen Pavillon gehen die Giardini unter
Hätten die Deutschen nur einen wie Jeremy Deller, der mit leichter Hand Mythen, Folklore und Geschichte der Briten reflektiert. Unter dem Titel „English Magic“ entspinnt er einen Parcours durch die Räume des neoklassizistischen Pavillons. Schoss Prinz William wirklich vor fünf Jahren aus Jux einen unter Naturschutz stehenden Adler ab? Was passierte 1972 am Rande von David Bowies berühmter Tournee, als das Königreich tief in der Krise steckte? Wandzeichnungen, Fotos, an die Wand geklebte Speerspitzen formen das Porträt eines Landes, dem zumindest in den Giardini die Herzen zufliegen.
Wie ernst gerade die Länder der vermeintlichen Peripherie die Biennale nehmen, zeigt sich an Chile und Rumänien. Alfredo Jaar hat ein 1:60-Modell der Giardini bauen lassen, das er in einem 5 mal 5 Meter großen Becken mit grünlichem Wasser alle drei Minuten abtauchen lässt. Jaar imaginiert damit, wie es wäre, wenn all die verfestigten Strukturen Venedigs verschwinden würden, wenn die in den Pavillons Stein gewordene Rangordnung einfach unterginge. Für ihn ist die Kunst noch Gegenwelt, doch ausgerechnet in den Giardini kehren die alten Hierarchien zurück, klagt der Künstler. Der rumänische Pavillon verwandelt dagegen Jaars Erkenntnis in eine kluge Parodie. Alexandra Pirici und Manuel Pelmus lassen die Geschichte der Biennale Tag für Tag von Darstellern als Pantomime nachspielen. Fünf Akteure stellen mit wenigen angedeuteten Gesten Kunstwerke nach – etwa eine Installation von Ernesto Neto aus dem Jahr 2001 oder ein Munch-Gemälde, das 1954 gezeigt wurde. Die Performer verdichten die große Tradition auf den Moment und zeigen doch, wie ephemer all diese Biennalen waren, die am Ende nur in der Erinnerung existieren. Auch diese „immaterielle Retrospektive“, wie sich die Inszenierung nennt, kommentiert die Verkrustungen der Biennale. Zugleich stellt sich das Land selber aus, indem es junge Rumänen spielen lässt, die wie viele ihrer Landsleute gerade einmal für Kost und Logis nach Italien gekommen sind und auf ein besseres Leben hoffen.
Dass die Kunst auch Fluchtpunkt ist, davon handelt die in zwei Sektionen geteilte Hauptausstellung, – der zentrale Pavillon in den Giardini und die Halle der einstigen Seilerei im Arsenale. Massimiliano Gioni, der 2006 in Berlin eine der besten Biennalen bescherte, hat die Schau unter das Motto „Il Palazzo Enciclopedico“ gestellt. Er zitiert damit das Wahnsinnsprojekt des Italieners Marino Auriti, der Anfang der Fünfziger von einem 700 Meter hohen Bau träumte, in dem alles Wissen der Welt beherbergt ist. Seine Vision nahm zumindest in einem gebauten Modell Form an, das nun im Entree des Arsenale steht.
Die Einheit von Bauchgefühl und Intellekt
Bei Gioni haben nicht nur die Profikünstler Platz, sondern auch all jene Außenseiter, Amateure, Besessene, denen sich der Betrieb zunehmend öffnet. Morton Bartletts Lolita-Puppen finden sich darin ebenso wie die dämonischen Malereien von Friedrich Schröder-Sonnenstern oder die tönernen Totems des Autisten Shinichi Sawada. Der Kurator propagiert eine Lesart der Kunst, bei der das Unbewusste die Hand des Künstlers führt. Neu ist das nicht; die Surrealisten erhoben schon vor hundert Jahren diese Überzeugung zu ihrem Prinzip. Der Psychoanalytiker C. G. Jung war ihr Patron. Sein berühmtes Rotes Buch, in das er seine Fantasien, kosmischen Eingebungen malte, liegt programmatisch aufgeschlagen im Entree der Giardini-Sektion. Auf den ersten Blick mag dies eine Engführung sein, denn alles, was danach kommt, scheint allein der Intuition entsprungen. Tino Sehgals Performance etwa, bei der am Boden sitzende Tänzer unter den Tafeln Rudolf Steiners singen und sich in Zeitlupe rekeln.
Und doch ist es gerade umgekehrt. Die Ausstellung plädiert für die Einheit von Bauchgefühl und Intellekt. Danh Võs lose Rekonstruktion einer katholischen Kirche aus Vietnam, die vor 200 Jahren entstand und regionale Bauformen verband, macht es vor. Die Geister der Vergangenheit stecken noch im Gebälk – Kolonialismus, Herrscherglaube, Macht –, doch die Kunst eröffnet Reflektionsräume. Ein kathartischer Prozess, den die Länderpavillons mit jeder Biennale neu durchspielen.
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