Der neue Roman von Monika Maron: Geister, die ich rief
Plötzlich wechselt eine Wolke ihre Flugrichtung, der Blick der Ich-Erzählerin Ruth trübt sich, trotz Navi verfährt sie sich. Schließlich findet sie sich in einem Park wieder, wo sie den Toten begegnet, sowohl aus ihrem privaten Umfeld als auch dem Ehepaar Honecker. Monika Marons neuer Roman „Zwischenspiel“ führt in die Tiefen deutsch-deutscher Geschichte.
Angenommen, die Wahrnehmung gleicht einem Radiogerät. Dann erkennen wir die Wirklichkeit nur, weil unser Sehvermögen auf eine bestimmte Frequenz eingestellt ist. Würde sich diese aber ändern, erschienen die Mitmenschen vielleicht nur noch als verpixelte Schemen. Aber vielleicht sähe man dafür andere Dinge klar und scharf. Die Toten zum Beispiel. So ergeht es jedenfalls der Museumspädagogin Ruth in Monika Marons neuem Roman. Morgens auf dem Balkon scheint eine einzelne Wolke plötzlich die Richtung zu wechseln, dann trübt sich das Sehvermögen der Ich-Erzählerin ein – was Marons sich im Herbst ihres Lebens befindliche Heldin aber bemerkenswert gelassen, ja neugierig zur Kenntnis nimmt.
Auf der anschließenden Fahrt zu einer Beerdigung verliert Ruth kurz vor dem Ziel und trotz Navi und „multifunktionalem Telefon“ endgültig die Orientierung. Statt auf dem Friedhof am Rande Berlins landet sie vor einem Park. In ihm warten schon die Toten auf Ruth, und das, obwohl Marons Erzählerin doch „weder an Gott noch an Globuli“ glaubt. Als Erstes zeigt sich Olga, die fast 90 Jahre alt geworden ist und eigentlich eben jetzt unter die Erde gebracht werden soll. „Es ist elf Uhr, sagte Olga, jetzt kommst du zu spät zu meiner Beerdigung.“
Anders als bei Genre-Titeln ist es bei Werken der anspruchsvollen Literatur selten sinnvoll, die Frage nach dem Realitätsstatus etwaiger fantastischer Elemente zu stellen, sollen diese ja gerade nicht Selbstzweck sein. So geht es auch in „Zwischenspiel“ nicht um die Frage, ob es sich um „wirkliche“ Gespenster oder nur um Einbildungen der Protagonistin handelt. Andererseits jedoch: Erwacht Ruth nicht gleich im ersten Absatz wie einst Gregor Samsa aus unruhigen Träumen? Gut möglich, dass diese einfach etwas länger andauern, als es der Träumerin bewusst ist.
Jedenfalls würde vieles von dem, was Ruth im Laufe dieses „sonderbarsten, auf gewisse Weise sogar schönsten Tag meines Lebens“ erlebt, gut zu dem passen, was die Psychoanalyse von Träumen behauptet. Diese sollen das Individuum häufig auf verschlüsselte Weise von unbewussten Schuldgefühlen freisprechen. Und was in jenem Park auf den Prüfstand gestellt wird, ist nicht weniger als das Leben der 60-jährigen Protagonistin, von dem Ruth bislang weite Teile verdrängt hat. „Nur Sie können wissen, warum wer hier ist, Sie allein“, bekommt sie von Bruno, einem schon längst verblichenen Bekannten aus DDR-Zeiten, zu hören. „Auch wir, Ihre wehrlosen Zeugen, sind nur hier, weil Sie es so wollen.“
Indem Ruth ziellos durch den Park streift und mal mit Olga, mal mit Bruno die gemeinsame Vergangenheit Revue passieren lässt, entfaltet sich für den Leser eine für Maron'sche Protagonistinnen typische komplexe Lebensgeschichte vor dem Hintergrund von deutscher Teilung und Wiedervereinigung; Anklänge an die Biografie der Autorin, wie ein SED-Funktionär als ungeliebter Stiefvater Ruths, inklusive: Auch Monika Maron bekam einst von ihrer Mutter mit dem späteren DDR-Innenminister Karl Maron einen höchst unliebsamen Ersatzvater vorgesetzt, rieb sich wie ihre Hauptfigur an dem „ideologischen Müll“ und den „Rechtfertigern und Verharmlosern“ der SED-Diktatur und ging einst wie Ruth kurz vor der Wende in den Westen.
Die verpasste Beerdigung erspart ihrer Protagonistin die Begegnung mit ihrem Ex Bernhard – Olgas Sohn und der Vater der gemeinsamen Tochter Fanny. Zu DDR-Zeiten hat er Ruth und ihren damaligen neuen Partner, den oppositionellen Schriftsteller Hendrik, für die Stasi bespitzelt und dabei sogar das Vertrauen der Tochter ausgenutzt, was Ruth erst nach der Wende aus ihren Akten erfahren hat. In der Gegenwart, in der auch die Beziehung mit Hendrik längst Geschichte ist, hat sie Bernhard seinen Verrat noch immer nicht verziehen.
Es ist die in ihr weißes Totenhemd gekleidete Olga, die Ruth nun im Park zur Einsicht führt, dass es noch eine andere Sicht auf die Vergangenheit gibt. Eine, die niemanden ganz freispricht, aber auch niemanden ganz verdammt. Nicht Hendrik, der als Schriftsteller die verschwenderische Genialität seines Trinker-Freundes Bruno ausschlachtete. Und nicht Ruth, die einst Bernhard verlassen hat. Frei von Schuld sind nur die Tiere, wie jener Hund, der Ruth im Park zuläuft und sie durch den Tag begleitet – ein schon aus den Johanna-Märtin-Romanen „Endmoränen“ (2002) und „Ach Glück“ (2007) bekanntes Motiv.
Ihr ganzes Leben lang hat Olga, anders als Ruth, ihre eigenen Wünsche zurückgestellt, wofür sie von der Jüngeren zu Lebzeiten nur bemitleidet wurde. Nun wird Ruth von der Verstorbenen daran erinnert, wie sie seinerzeit ohne Rücksicht auf Bernhard mit der gemeinsamen Tochter in den Westen ging, aus Bernhards Sicht eine Art Entführung. „Manchmal gibt es das Richtige einfach nicht“, formuliert die tote Olga die tröstlich-versöhnende Kernbotschaft des Romans. „Man hat nur die Wahl zwischen dem einen und dem anderen Falschen, und dann weiß der Mensch sich nicht zu helfen.“
Eindrucksvoll lässt Marons Totentanz in Romanform „im Tragischen das Lächerliche durchscheinen … und umgekehrt“, wie es darin einmal heißt. Gerade in der ersten Hälfte kann der Text mit vielen klugen, in einer geschmeidigen Prosa formulierten Reflexionen aufwarten: über Entscheidungen und Erinnerungen, Lebensentwürfe und Vergänglichkeit oder über die Frage, „was ist so ein Ich eigentlich …, wenn dem alten Ich das junge so fremd ist, als gehörte es gar nicht zu ihm“.
Leider belässt es die Autorin aber nicht bei der behutsam-meditativen Erforschung von Ruths deutsch-deutscher Vita. Stattdessen greift sie in der zweiten Hälfte, als wollte sie der Gefahr einer aufkommenden Langeweile entgehen, zu immer drastischeren Mitteln, von denen nicht alle zu überzeugen vermögen. Denn während sich Olga und Bruno immer wieder „in nichts“ auflösen, nur um ein paar Seiten später doch wieder hinter einem Busch aufzutauchen, begegnen Ruth an jenem Tag noch ganz andere Gestalten. Zuerst ein höchst illustres Pärchen: Margot Honecker mit zerzausten blauen Haaren, die ihren Erich hinter sich herschleift; beide so uneinsichtig und rechthaberisch wie eh und je. Dann das personifizierte Böse, ein „schiefäugiges Ungeheuer“ in Menschengestalt, das Ruth an den Wurzeln ihres moralischen Selbstverständnisses packt.
Und schließlich wird die Erzählerin Zeugin einer unheimlichen Massenszene, wie von Goya gemalt – ein apokalyptischer Karneval als Ausblick auf die Zukunft. Hinter den ihre „Stirnen wieder und wieder gegen den Boden“ schlagenden, Gott anrufenden Feiernden werden sich doch nicht am Ende jene demokratiegefährdenden Islamisten verbergen, vor denen die Gesellschaftskritikerin Monika Maron seit einigen Jahren warnt? Nur gut, dass Ruths Sehapparat am Ende doch wieder die „richtige“ Frequenz findet.
Monika Maron: Zwischenspiel. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 192 Seiten, 18,99 €.