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Im Orchestergraben herrscht Sauerstoffmangel, tausend Augen schauen auf den Maestro. Da ist Sozialkompetenz oberste Pflicht.
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Die Causa Barenboim: Gehorchen kommt von Hören

Das Orchester und sein Dirigent: das kleine Psychogramm einer Schicksalsgemeinschaft.

Es ist ja nicht wahr, dass Dirigenten Diktatoren sind. Seit über die Vorwürfe gegen Daniel Barenboim diskutiert wird, ist viel vom herrischen Gebaren der Maestri die Rede, von Demütigung und Diskriminierung. Dirigenten sind Chefs, so viel ist wahr. Und Orchester sind hierarchisch strukturiert. Der Dirigent befiehlt, die anderen gehorchen, der Konzertmeister, die 1. Geige, die Stimmführer, die Vorspieler, die Solobläser, alles ist fein säuberlich in Unterhierarchien (und Tarifgruppen) sortiert.

Aber es sind paradoxe Hierarchien. Gute Musik kommt ohne Gehorsam nicht zustande. Hören und Gehorchen haben die gleiche Wortwurzel. Aber genauso wenig geht es ohne Gemeinschaftssinn und ohne selbstgewisse, selbstsichere Individuen, für die sich das Wegtauchen in der Menge verbietet.

Über ihre Kollegen entscheiden Orchester meist im Kollektiv, ganz anders als in anderen Unternehmen. Der Druck geht keineswegs nur vom Dirigentenpult aus, sondern auch vom Ensemble. Ein falscher Ton, und alle hören es. Der Mann mit dem Taktstock (es ist doch meistens ein Mann), das Publikum und der Pultnachbar.

Über den Chef regen sich auf alle

Kleines Seitenthema: Über das fehlerhafte Verhalten von Chefs erregt sich die Öffentlichkeit ja immer gerne, ob es sich nun um das Plagiat bei der Doktorarbeit handelt, um den korrupten Manager, um sexuelle Übergriffe oder herrisches Gebaren bei der Orchesterprobe. Selbstverständlich lässt sich das nicht vergleichen. Bei MeToo oder im Fall von Korruption geht es oft um Straftaten, bei der Causa Barenboim nicht: psychischer Druck, mögliches menschliches Fehlverhalten sind erst mal keine Angelegenheit für Gerichte. Aber die Reaktionsmuster ähneln sich. Jemand bricht das Schweigen, andere trauen sich auch aus der Deckung, jetzt rede ich. Und alle pflichten bei, wussten es irgendwie schon immer, es war doch ein offenes Geheimnis ...

Das Muster findet sich schon deshalb häufig, weil die meisten Menschen keine Chefs sind. Die Mächtigen vom Thron zu stürzen, ist ein beliebter Mannschaftssport. Königsmord verschafft Genugtuung und ein gutes Gefühl, irgendwo zwischen Rache und Rebellion. Was nicht heißt, dass solche Selbstermächtigung nicht bitter nötig ist. Missstände, strafbare wie einfach nur himmelschreiend unsympathische, gehören ans Tageslicht. Aber zurück zum Orchester.

Sie sitzen dicht aufeinander, dichter als in jedem Großraumbüro, oft über Jahre in derselben Konstellation. Kaum mehr als ein Quadratmeter, das ist der Arbeitsplatz eines Orchestermusikers. Man stelle sich das nur mal für den eigenen Job vor. Unter derart beengten Verhältnissen leisten sie Körperarbeit mit Disziplin und Herzblut, geringer Fehler- und hoher Frustrationstoleranz. Die Tuttigeige teilt sich das Pult mit dem Nachbarn, einer blättert um, wehe, du kannst ihn oder sie nicht riechen. Die Trompeten dröhnen einem ins Ohr, schon die Dezibel-Belastung bei den Holzbläsern in der Reihe davor ist immens – zumal die Orchester nachweislich lauter wurden mit den Jahrzehnten. Im Orchestergraben ist Sauerstoff Mangelware. Und auf dem Podium im Konzertsaal schauen tausend Augen auf dich. Lampenfieber kann sich hier keiner erlauben. Und Sozialkompetenz ist Pflicht.

Hoher Stress auf engstem Raum

Hochleistungssportler können sich auf dem Platz austoben. Orchestermusiker bewegen sich kaum über ihren Quadratmeter hinaus. Und den Mund halten müssen sie auch. Jahrelang haben sie so stupide wie leidenschaftlich geprobt und geschuftet, haben Aufnahmeprüfungen, Konzertexamen und Probespiele bestanden, wurden unter Hunderten Bewerbern ausgewählt, ein Riesenerfolg. Sie haben das Zeug zu Solisten und bleiben doch Dienende bis zur Verrentung. Sie dienen dem Werk, dem Publikum, dem Dirigenten – und sehen sich trotzdem nervenaufreibendem Erfolgsdruck ausgesetzt, den es locker auszublenden gilt.

Der Solohornist ist heute schlecht drauf, kränkelt, hat Krach zu Hause? Aber die Lippen müssen präzise geformt sein für diesen Traumton, den die Philharmonie-Besucher von ihm erwarten. Das erfordert bei aller Routine höchste Konzentration. Musizieren ist Seelenarbeit, Ich-Stärke. Dienst nach Vorschrift verbietet sich da. Zumal das Niveau gestiegen, der internationale Wettbewerb härter geworden ist. „Der Markt sortiert gnadenlos aus, das geht zackzack“, sagte der Neurophysiologe Eckart Altenmüller 2014 dem Tagesspiegel. „Wer oben bleiben will, muss sehr stabil sein.“

Und dann steht da vorne einer, der einen in der Probe wiederholt „rannimmt“, einen permanent kleinmacht, nur „Fagott“ nennt oder „die Pauke“. Wo bleibt die Anerkennung? Sänger und Schauspieler haben es besser, bei ihnen weiß das Publikum wenigstens die Namen.

Phänomenologie der Renitenz

Das ist das Paradox des Orchestermusikers: die Exponiertheit und die Unterordnung, die Solotauglichkeit und der Untertanengeist. Da staut sich nicht selten was auf, und zwar zu Recht. Jahrelang hatte ein Geiger seinem Vordermann mit dem Bogen in den Rücken gepikst, wenn er was wollte. Eines Tages steht der Vordermann auf, dreht sich um und verpasst seinem Peiniger eine Ohrfeige. Eine wahre, etwas ältere Geschichte aus einem der großen deutschen Orchester. Heute gibt es Mentaltrainer, Mediatoren, Musikmediziner – aber das Psychocoaching gehört noch immer nicht in dem Maß dazu wie etwa beim Mannschaftssport.

„Die Verhaltensweise der Orchestermusiker zu beschreiben, liefe auf eine Phänomenologie der Renitenz hinaus“, schrieb Theodor W. Adorno Anfang der 60er Jahre in seiner „Einleitung zur Musiksoziologie“, im berühmten Aufsatz „Dirigent und Orchester“. Die Deutschen und der autoritäre Charakter (in anderen Ländern ist die Front zwischen Frontmann und Fußvolk wohl durchlässiger): Adorno fügte hinzu, das Orchester bilde so „etwas wie einen Mikrokosmos, in dem Spannungen der Gesellschaft wiederkehren und konkret sich studieren lassen, vergleichbar etwa der community, der Stadtgemeinde“.

Zu einer Zeit, als an den Universitäten und überall in der Bundesrepublik die Hierarchien aufzubrechen begannen, als der Philosoph sich an der Uni Frankfurt selbst mit rebellischen Studenten konfrontiert sah, analysierte er die Gegnerschaft zwischen Orchester und Dirigent – dem er sich näher fühlte. Adorno schrieb über die Ressentiments untereinander wie in der Außenwahrnehmung, über die „Ideologie des Unbewussten“.

Hier der eine, der den Laden buchstäblich mit einem Schlag zusammenhält, da die vielen, die einen „affektiven Widerstand“ gegen den redenden Kapellmeister entwickeln und ihren Antiintellektualismus kultivieren, bis hin zur „sabotagefreudigen Arroganz“. Wegen des Widerwillens gegen die Unterwerfung und des gleichzeitigen Wissens um deren Notwendigkeit. Ein Symptom, auch darüber schrieb Adorno: der Musikerwitz, die Revanche der Ohnmächtigen. Beispiel gefällig? „Was dirigiert Karajan denn heute? Keine Ahnung, aber wir spielen Beethovens Fünfte.“

Bewunderter Feind, zu ermordender Vater, lächerlicher Bruder

Mitleid wäre übrigens unangebracht. Die knapp 10 000 Musiker im öffentlichen Dienst der aktuell 129 deutschen Berufsorchester sind meist unkündbare Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie werden angemessen bis fürstlich entlohnt, anders als Erzieher oder Krankenpfleger, deren Sozial- und Psychostress nicht unbedingt geringer ist.

Die ersten Dirigenten waren Komponisten und die ersten Taktstöcke Schwergewichte. Keine hauchdünnen Stäbe, die im Eifer des Gefechts gern mal zerbrechen. Sie wurden auch nicht elegant in der Luft geschwungen, der Dirigent stampfte den Takt vielmehr auf den Boden. Sagt die Legende. Als Jean-Baptiste Lully 1687 am Hof des Sonnenkönigs in Versailles dirigierte, rammte er sich den Stab in den Fuß, zwei Monate später starb er an Wundbrand. 300 Jahre später schrieb der Kritiker Hans-Klaus Jungheinrich in seiner Monografie „Der Musikdarsteller – Zur Kunst des Dirigenten“, Letzterer sei eine mehr oder weniger traumatische Figur für das Orchestermitglied. „Ein bewunderter Feind, ein zu ermordender Vater, ein lächerlicher älterer Bruder.“

Da sind die autoritären und die eher kollegialen Väter, die zornigen und die gnädigen Götter. Hier der Autokratentypus à la Celibidache und Karajan – „Stiefel im Nacken“, erinnert sich der Philharmoniker-Oboist Albrecht Mayer später in der „Frankfurter Rundschau“ –, zu dem auch Barenboim gehört. Dort der Typus Nagano und Rattle, freundlich, nett, auch mal kumpelhaft. Je kleiner das Orchester, desto teamfreudiger kann gearbeitet werden. Kammerensembles für Alte oder Neue Musik kommen mittlerweile oft ohne Dirigent aus. Aber ein Symphonieorchester klingt fade ohne Chef, nach kleinstem gemeinsamen Nenner. Die Pult-Zampanos sind in der jüngeren Generation allemal seltener geworden, man setzt mehr auf Motivation, auf Kommunikation und Aufmerksamkeit. Auf die „ausgestreckte Hand“, wie Albrecht Mayer sich wiederum an Claudio Abbado erinnert.

Qualität ist keine Charakterfrage

Aber die Qualität des Orchesterspiels hängt nicht vom Charakter des Dirigenten ab. Denn die Grunddynamik bleibt immer gleich. Einer sagt, wo’s langgeht, das Kollektiv folgt, Widerspruch zwecklos. 80 Musiker, die einander teils nur zeitversetzt hören, sollen synchron einsetzen, wie mit einem Atem ins Diminuendo wegdämmern oder zur Apotheose von null auf hundert ihr Äußerstes geben. Das ist nicht zu machen mit den Mitteln der Demokratie. Leiten deshalb bis heute so wenig Frauen Spitzenorchester oder aus ganz anderen Gründen? Muss die Macht in der Musik auf immer männlich sein?

Überredungs- und Überzeugungskunst, auch intensive Probenarbeit genügen jedenfalls nicht. Am Ende zählt der Augenblick, so flüchtig wie intensiv. Die besten Dirigenten, sagen viele Musiker, sind die, die nichts sagen. Die mit Präsenz und Präzision, Fingerspitzengefühl und gestischem Ausdruck die Musik evozieren, den Wahnsinn, die Liebe, die Überwältigung. Live im Saal, egal ob mit oder ohne Taktstock.

Es ist ja doch wahr, dass der Dirigent ein Diktator ist. Ein Machthaber qua Amt, allen Paradoxien zum Trotz. Es geht am Ende nicht anders. Anständig benehmen kann er sich trotzdem.

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