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Ingrimm und Feinsinn. Arno Schmidt (1914 - 1979) gefiel sich in der Pose des Genies. In den 70er Jahren wurde er zur Kultfigur, seine Jünger pilgerten zu ihm ins Heidedorf Bargfeld.
© Ullstein bild

Arno Schmidt zum 100.: Gegen Gott und die Deutschen

Der Mythos von Bargfeld: Zum 100. Geburtstag des Dichters und erhabenen Grantlers Arno Schmidt erinnert sein Biograf Wolfgang Martynkewicz an den großen Außenseiter der deutschen Literatur.

Er hätte uns was gehustet und sich an den Schreibtisch verdrückt. Feiern war seine Sache nicht. Schreiben soll der Dichter – „und sonst gar nichts!“, verkündete einst lauthals Arno Schmidt. Mit Nachdruck nannte er sich „BerufsSchriftsteller“. Von wegen Burn-out: „unser ganzes Volk, an der Spitze natürlich die Jugend“, sei „mit nichten überarbeitet, vielmehr typisch unterarbeitet: ich kann das Geschwafel von der ‚40=Stunden=Woche’ einfach nicht mehr hören: meine Woche hat immer 100 Stunden gehabt.“

So war er: ein Asket, der die Arbeit vergötzte, der über die Jugend und den schwindenden Leistungswillen schimpfte und seine eiserne Selbstdisziplin idealisierte. In der Literatur sah er etwas Großes und Heiliges, das jedes Opfer rechtfertigt, nicht zuletzt auch das der eigenen Person. So war er – und so war er nicht! Da gab es immer auch einen anderen Schmidt, einen, der sich auflehnte gegen „Thron & Altar“, einen „Dagegen=SCHMIDT“, der sich von den intellektuellen Moden fern hielt.

Diesen Schmidt haben wir gemocht. Wir haben ihn in einer Zeit gelesen, als man noch eine Meinung haben musste – und Schmidt hatte eine Meinung! Ob Wiederaufrüstung, Westanbindung oder Religion, dieser andere Schmidt war irgendwie gegen alles, gegen Gott und die Welt, vor allem aber gegen die Deutschen. Lebhaft widersprach er der Annahme, dieses Volk sei 1933 „vergewaltigt“ worden. Er misstraute dem Frieden und glaubte angesichts der Atomwaffen in Ost und West allenfalls an eine kurze Zwischenkriegszeit: „Wer noch leben will, der beeile sich!“ Vor allem aber misstraute er den Politikern, und natürlich sprach dieser Schmidt voller Hohn und Spott vom Älter- und Weiser-Werden: „es giebt keine Altersweisheit !!“, behauptete er kategorisch.

Dieser andere Schmidt sah sich als „verurteilter Papiermensch“. Klar, auch der hätte uns was gehustet und wäre nicht zur Feier erschienen. Aber nicht, weil er sich nicht gerne feiern ließ, sondern weil er nicht aus seiner Haut konnte. Zuweilen wurde allerdings die sorgfältig gepflegte Charaktermaske des Erhabenen, der über den Dingen steht, brüchig. 1964, zu seinem 50., ist er geradezu aus dem Häuschen, als er seinem Freund Wilhelm Michels von der Schar der Gratulanten berichtet: „Die Geburtsgeschenke waren bergehoch, und die Briefflut scheint noch im Steigen ... Wer zählt die Völker? Von Robert Neumann, Marcuse, Bense, Rowohltinselsuhrkampstahlberg.“ Rowohlt schoss den Vogel ab: „6 Flaschen, und keine davon unter 45 %!“

Schmidt wollte nicht zwischen seiner Person und seinem Werk trennen

Der Schriftsteller studiert hier gerade seinen berühmten Zettelkasten, um 1955.
Der Schriftsteller studiert hier gerade seinen berühmten Zettelkasten, um 1955.
© epd

Damals war Schmidt aus dem Gröbsten heraus. 1958 hatte er ein Häuschen im Heidedorf Bargfeld erstanden: „Fachwerk, Lehmziegel, mit Brettern verschalt / Baujahr 1948; ausgezeichnet erhalten / 1200 qm Land mit Obstbäumen.“ Eine Dichterklause, ganz nach dem Geschmack des „großen Einsamen“ oder, besser gesagt, des großen Zweisamen, denn hier war er „allein zusammen“ mit seiner Frau und Gehilfin Alice.

Gut zehn Jahre als freier Schriftsteller lagen hinter ihm. Mit dem „Leviathan“, „Brand’s Haide“, „Schwarze Spiegel“, dem „Faun“ und „Seelandschaft mit Pocahontas“ hatte er der Nachkriegsliteratur seinen Stempel aufgedrückt. Da war ein Ton zu hören, den es woanders nicht gab, ein Sound, an dem man sich berauschen konnte: schnoddrig, aufmüpfig, widerborstig. Eine Rede, gespickt mit Kalauern und Wortwitz, voller Hintergründigkeit; vorgebracht im Gestus des Bescheidwissens. Seine Protagonisten redeten aber nicht nur befreiend anders, sie nannten die Dinge beim Namen. Das brachte Schmidt 1955 eine Anzeige wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften ein.

Schmidt wollte nicht zwischen seiner Person und seiner Literatur trennen. Das verlieh seinen Figuren eine besondere Authentizität. Diese enge Bindung des Autors an seine Schöpfungen hat aber auch zu falschen Schlussfolgerungen geführt. Die engagierte Literatur war seine Sache nicht. Gleichwohl hasste er das L’art pour l’art und schrieb am Puls der Zeit. Mitte der fünfziger Jahre, als sich die Adenauer-Republik und der Ulbricht-Staat immer schärfer voneinander abgrenzten, betrieb Schmidt im „Steinernen Herz“ eine vorsichtige Wiederannäherung: „was mich neugierig in die DDR führt, ist weniger die anziehende Kraft des Ostens als vielmehr die abstoßende des Westens!“

Vergessen wir aber nicht jene wunderbaren, oft nur drei bis vier Seiten langen Geschichten, die Schmidt, mit gespielt-abfälliger Geste, als Nebenarbeiten bezeichnete. Geschichten, erzählt mit leisem Humor und viel Hintersinn. Schon in den Titeln schwingt etwas von der verlorenen Zeit mit, in die der Leser von heute eintauchen kann: „Seltsame Tage“, „Zählergesang“ und „Rollende Nacht“. Darunter auch derbere Stücke wie „Trommler beim Zaren“.

Man las die ersten Zeilen und war hin: „Ich selbst hab’ ja nichts erlebt – was mir übrigens gar nichts ausmacht; ich bin nicht Narrs genug, einen Weltreisenden zu beneiden, dazu hab’ ich zuviel im Seydlitz gelesen oder im Großen Brehm. Und was heißt schon New York? Großstadt ist Großstadt; ich war oft genug in Hannover.“ Und dann die Fernfahrerkneipe! – geschildert mit dem Blick des teilnehmenden Beobachters; mittendrin, die „breitschultrige Fünfzigerin“, „leicht bebowlt“ verkündet sie: „Mein Vater war Trommler beim Zaren: bei mir ist Alles Natur!“

Schmidt erhielt dafür 250 DM, eines seiner Spitzenhonorare. Von seiner eigentlichen Literatur konnte er nicht leben, er wurde für sie gelobt und schon früh ausgezeichnet, aber mit seinen eigenwilligen Übersetzungenhielt er sich über Wasser. Mitte der Fünfziger kam eine weitere Einnahmequelle hinzu. Alfred Andersch, der Freund und Förderer, regte ihn zu Radio-Essays an. Mit den Dialogen über Dichter und Denker entwarf Schmidt einen literarischen Privatkosmos. Für die ernsthaften Leser wurde es anstrengend: Sie folgten dem Meister in das Labyrinth seiner Lieblingslektüren, so mancher fand nicht mehr heraus.

Das erste Dezennium seines Schriftstellerlebens war nicht einfach, doch man rieb sich an ihm, an seinen Selbstinszenierungen als Dichterheros. An Aufmerksamkeit mangelte es nicht. Schon 1959 brachte der „Spiegel“ eine Titelgeschichte über den Außenseiter, der in der Pose des Genies auftrat. Nie wieder war Schmidt so gelöst wie in den Jahren zwischen 1958 und 1964, Man kann es an der Korrespondenz und der Literatur ablesen. Das Buch über Karl May, „Sitara und der Weg dorthin“, war nicht nur eine „Studie“, es war auch ein Spaß. Schmidt horchte die Texte Mays mit den Techniken der Freud’schen „Traumdeutung“ ab und sah überall verdrängte homosexuelle Wünsche. Alles reimte sich für ihn zusammen: „May’s Werk ist von A bis Z anal stigmatisiert!“ – eine „Welt, aus Hintern erbaut!“ Auch der Roman „Kaff“ zeugte von unbändiger Fabulierlust. Da sitzen sich Russen und Amerikaner auf dem Mond gegenüber – die Erde ist nach einem Atomkrieg zerstört. Und worüber denken die Geretteten nach? Über ein nationales Heldenepos!

Bis dahin kamen die meisten noch mit. Dann aber startete Schmidt durch. Während sich die Studentenbewegung formierte, sammelte er in seinen berühmten Zettelkästen das Material für ein Groß-Buch, das er „Zettel’s Traum“ nannte: 1330 Seiten, Format DIN A 3, mehrspaltig beschrieben und 1970 als faksimilisiertes Typoskript veröffentlicht. Er war nicht wenig stolz darauf, ein, im wahrsten Sinne des Wortes, schweres Buch geschrieben zu haben. Den Kreis der Leser schränkte er auf 390 ein – die „eigentlichen Kulturträger“ der Nation. Die ernsthaften Leser gründeten jetzt das „Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat“ und publizierten ein Mitteilungsblatt, den „Bargfelder Boten“. Damals, ohne Suchmaschinen, war das Entschlüsseln von Zitatstellen und das Nachschlagen echte Kärrnerarbeit. Heute wirken viele Hefte und Handbücher, die unter der Herausgeberschaft von Jörg Drews erschienen, wie Relikte einer anderen Epoche.

In dem knappen Lebensjahrzehnt, das ihm noch blieb, publizierte Schmidt weiter großformatige Bücher. In „Die Schule der Atheisten“ und in „Abend mit Goldrand“ fand er wieder zum ironischen Erzählen zurück. In den Siebzigern wurde Schmidt zur Kultfigur. Unerschrockene pilgerten in die Heide, um ihr Idol leibhaftig zu sehen. Wer Glück hatte, konnte ihn auf Spaziergängen beobachten. Jan Philipp Reemtsma traf Schmidt im Juli 1977 am örtlichen Badeteich und bot an, ihn finanziell zu unterstützen. Nach einigem Zögern nahm Schmidt das Angebot an. Es war eine späte Wunscherfüllung.

Nein, der „Pionier auf Einmannpfaden“ war gar nicht so abweisend wie er sich in seiner Literatur gerierte. Schmidt spielte durchaus gern den Autor zum Anfassen, posierte für seine Bewunderer im Allerheiligsten, dem Arbeitszimmer, oder ließ sich neben deren begleitenden Damen ablichten. Im Grunde war er ein charmanter Gastgeber. Nur hatte er nachher immer ein schlechtes Gewissen. Im Tagebuch spricht er von „Gewäsch“ und „ödem Gerede“ und schimpft darüber, dass er „nicht mehr zum Arbeiten“ komme. Ach, was war Arno Schmidt doch für ein Neurotiker! Gleichwohl, wir ziehen unseren Hut vor einem Werk, das einzig dasteht – und hoffen, dass er im Elysium seine „Dichtergespräche“ weiterführen kann.

Der Autor ist Literaturwissenschaftler und verfasste eine Rowohlt-Monografie über Arno Schmidt. 2013 erschien von ihm "Das Zeitalter der Erschöpfung: Die Überforderung des Menschen durch die Moderne" (Aufbau-Verlag).

DEM JUBILAR ZU EHREN: NEUE BÜCHER, AKTUELLE VERANSTALTUNGEN
Arno Schmidt: Das große Lesebuch. Hg. von Bernd Rauschenbach. Fischer Klassik, Frankfurt a. M. 2013. 445 S., 9,99 €.

Und nun auf, zum Postauto!“ Briefe von Arno Schmidt. Hg. von Susanne Fischer und B. Rauschenbach. Edition der Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp verlag, Berlin 2013. 294 S., 29 €.

Na, Sie hätten mal in Weimar leben sollen!“ Über Wieland – Goethe – Herder. Mit einem Essay von Jan Philipp Reemtsma. Reclam Verlag, Stuttgart 2013. 234 Seiten, 6,40 €.

Arno Schmidt 1914 – 1979. Chronik von Leben und Werk. Kompiliert von Friedhelm Rathjen. Bargfelder Bote, Lieferung 375 – 377. 100 S., 15 €.

Arno Schmidt zum Vergnügen. Hrsg. u. mit einem Vorwort von Susanne Fischer. Reclam Verlag, Stuttgart 2013. 191 S.,5 €.

Jörg Drews: Im Meer der Entscheidungen. Aufsätze zum Werk Arno Schmidts 1963 – 2009. Hg. von Axel Dunker. Edition Text + Kritik, Richard Boorberg, Verlag, München 2014. 281 S., 36 €.

Mond, Nebel & Regen erste Qualität. Arno Schmidt in Bargfeld. Hörbuch auf 2 CDs. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013.

FILME UND VERANSTALTUNGEN
Arno Schmidt – „Mein Herz gehört dem Kopf!“ Film von Oliver Schwehm. Arte, 15.1., 22.40 Uhr.

Enthymesis. Dramatisierung der gleichnamigen Erzählung mit Richard Gonlag. Regie: Ivan van Urk. Vorpremiere in der Lettretage (Mehringdamm 61), 16.1., 20 Uhr. Brotfabrik, 6.– 9. Februar.

Arno Schmidt zum 100. Öffentliche Veranstaltung in der Niedersächsischen Landesvertretung, In den Ministergärten 10. 17.1., 20 Uhr. Eintritt frei. Anmeldung unter info@landesvertretung-niedersachsen.de erforderlich.

Wolfgang Martynkewicz

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