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Schafe, Himmel, Grün - der Rand des Universums ist oft malerisch.
© David McLain /Aurora/laif

Neuseeland auf der Buchmesse: Gastland vom Rand der Welt

Neuseeland, Ehrengast der Frankfurter Buchmesse, ist geprägt von Maori-Traditionen und europäischem Erbe. Seine Schriftstellerinnen und Schriftsteller mögen aus einem anderen Universum kommen. Berlin sind einige von ihnen erstaunlich nah.

Hier, wo das Kalenderjahr beginnt und die Sonne von rechts nach links über den Horizont wandert, mag man eine Randregion bewohnen. Aber warum sollte das auch nur einen Neuseeländer kümmern? „Ich lebe am Rand des Universums, wie alle Menschen“, schreibt der einheimische Dichter Bill Manhire.

Je näher das Flugzeug von Norden die Metropole Auckland erreicht, desto mehr Inseln sieht man im Pazifischen Ozean, Überreste von rund fünfzig Vulkanen, auf denen das heutige Wirtschaftszentrum des Landes errichtet wurde. Das viel kleinere Wellington, wo auch Manhire lehrt, gilt seit jeher als das intellektuelle Zentrum, wofür die Neuseeländer mit typischer Ironie gern das Klima verantwortlich machen.

Nicht nur in der von Wind, Wolken und Wasser umtosten Regierungsstadt an der Meerenge zwischen Nord- und Südinsel bebt die Erde mindestens einmal am Tag. Meistens werden die Vibrationen nur von den Messinstrumenten bemerkt, doch mit einem verheerenden Erdbeben muss in Neuseeland immer wieder gerechnet werden, so wie vor anderthalb Jahren in Christchurch, der größten Stadt auf der Südinsel.

Zwei Frauen brachten die neuseeländische Literatur einst in die Weltöffentlichkeit: Katherine Mansfield mit meisterhaften Kurzgeschichten und Janet Frame mit verstörenden, semiautobiografischen Romanen, darunter „Ein Engel an meiner Tafel“. Frame gehörte zu den Protegés von Frank Sargeson, dessen Short Story „The Making of a New Zealander“ als Schlüsselwerk zum Verständnis des jungen Landes in der Zeit der Depression gilt.

In seinen lakonischen Geschichten fing der sozialkritische Realist den puritanischen Pioniergeist im Leben der weißen Working Class ein. Seit etwa 40 Jahren bilden die Stimmen der einstigen Urbewohner ein eigenes, ausdrucksstarkes Register im literarischen Chor von Aotearoa, dem „Land der langen weißen Wolke“, wie es auf Maori heißt.

Neuseelands gewandeltes Selbstverständnis bestimmt die Präsentation des Ehrengasts der Frankfurter Buchmesse 2012 und zeigt sich nicht zuletzt an semantischen Verschiebungen: „Neuseeländer“ waren für die ersten weißen Siedler die Einheimischen, während sie selber sich als Engländer und Europäer betrachteten. Als deren Anteil immer mehr wuchs, während die Maori-Bevölkerung durch Krieg und Krankheit schrumpfte, bezeichneten sich die wirtschaftlich erfolgreichen Kolonialisten nunmehr selber als Neuseeländer. Inzwischen gehört sogar der Maori-Begriff „Pakeha“ als Bezeichnung für die weiße Bevölkerung zum neuseeländischen Wortschatz, ein klares Zeichen für gewonnenes Terrain. Derzeit bewegt die Diskussion über die Rechte an Gewässern, die von Maori reklamiert werden, das ganze Land. Während langwieriger Reparationsverhandlungen zwischen dem Maori Council, Gerichten und Regierung werden alte Machtbereiche neu abgesteckt.

Lange wollte man derartige Konflikte im harmonischen Neuseeland nicht wahrhaben. Man war stolz auf den der Natur abgerungenen Garten Eden und auf einen Staat, in dem männliche Maori bereits 1867 das Wahlrecht erhalten hatten, 26 Jahre vor den Frauen, wobei Letztere dieses Recht weltweit zum ersten Mal bekamen. Mit Beginn des 21.Jahrhunderts konzipiert Neuseeland sich als multikulturelle, polyphone, pazifische Nation. Dass deren Literatur, abgesehen von einigen wenigen Autoren bisher kaum über die Landesgrenzen hinausgekommen ist, liegt weder an einem Mangel an Quantität noch an Qualität. „Wir sind ein kleines Land, und wir sind es gewohnt, nach außen zu schauen anstatt nach innen“, sagt Kevin Chapman, Präsident der Publishers Association of New Zealand, die seit über 30 Jahren mit derzeit mehr als 80 Mitgliedern die neuseeländische Verlagsbranche repräsentiert.

Neben einer Reihe von bedeutenden Literaturpreisen, darunter dem des Premierministers, existieren drei große Festivals in Auckland, Wellington und Christchurch. Auch das bedeutendste Magazin des Landes, der „New Zealand Listener“, räumt literarischen Themen vergleichsweise viel Platz ein. Im Namen des ältesten, 1947 gegründeten Literaturmagazins „Landfall“ schwingt noch Entdeckergeist mit: Schriftsteller werden gleichsam zu Seefahrern und Piloten, in deren Terminologie der Begriff „Landfall“ den Moment der ersten Sichtung von Land benennt. Wohl nur in Neuseeland, wo Sport zum Nationalkult gehört, konnte 1988 das derzeit führende Literaturmagazin namens „Sport“ gegründet werden.

Der erst seit dem Jahr 2008 existierende Maori Language Award ging in diesem Jahr an Chris Winitana für sein Buch „Toku Reo, Toko Ohooho“, das den 40-jährigen Kampf für den Erhalt der Maori-Sprache reflektiert. Den Boden für die Maori-Renaissance legten Witi Ihimaera und Patricia Grace mit ihren Short Stories und Romanen, die explizit für die Rechte der Maori eintraten. Wenn Ihimaera jedoch in seinem neuesten Roman „The Parihaka Woman“ Maori-Historie mit europäischen Kulturmythen verschmilzt, genauer die Beethoven’sche Leonore in die Matriarchin Erenora verwandelt und ein Leuchtturmwächter namens Rocco Sonnleithner samt Tochter Marzelline auftreten, zeigt sich, dass dieser geschätzte, doch nicht immer unumstrittene Autor längst zum Bewohner einer virtuellen Weltkultur geworden ist.

Nationalcharakter mit einem Hang zum Dokumentarischen und Praktischen

Ein stärkerer Kontrast als zu Alain Duffs sozialkritischem Maori-Ghetto-Vorstadt-Roman „Warriors“ lässt sich kaum denken, mit Ausnahme vielleicht von Keri Hulmes „Unter dem Tagmond“ (in Sonderausgabe bei S. Fischer), einem Roman, der noch erschreckender Gewalt und Misshandlung, auch von Kindern, thematisiert. Alan Duff, dessen Romanverfilmung von „Once Were Warriors“ wohl in keinem neuseeländischen Haus fehlt, lebt heute in Frankreich und sagt, dass er sich mit der expliziten Anklage des staatlichen Wohlfahrtsystems den Unmut aller liberalen Kräfte in Neuseeland zugezogen habe.

Gerade in der Pflege der Short Story zeigen sich markante Elemente des Nationalcharakters, ein „Hang zum Dokumentarischen“ und die „Verehrung des Praktischen“, wie es im Vorwort zur dtv-Anthologie „Ein anderes Land“ heißt. Viele junge Schriftsteller, etwa Tina Makereti und Hamish Clayton, weben legendenhafte Komponenten in ihre Texte ein, oft angeregt durch Mythen, die sich bis heute in den traditionellen Namen von Bergen, Flüssen, Seen, Inseln im ganzen Land spiegeln. Von jeher spielt die Lyrik im neuseeländischen Literaturkanon eine Rolle, häufig experimentell und innovativ, etwa bei den Dichtern Hone Tuwhare, Bill Manhire, Jan Kemp und in jüngster Zeit bei Kate Camp, deren Berlin-Aufenthalt gerade zu Ende geht.

Nicht nur für sie bildet die deutsche Hauptstadt einen wichtigen Bezugspunkt – schon wegen des seit zwölf Jahren bestehenden neuseeländischen Artists in Residence Programms. Zu den ersten Stipendiaten gehörte Sarah Quigley, eine zarte Gestalt, deren mächtiger Roman über die deutsche Belagerung Leningrads und den Komponisten Dimitri Schostakowitsch gerade im Aufbau Verlag erschienen ist. Inzwischen lebt sie dauerhaft in Berlin. Als „zweite Heimat“ betrachtet Lloyd Jones die Stadt. Wie schon in seinem Bestseller „Mr. Pip“ legt der sportliche Mittfünfziger auch in seinem jüngsten Roman „Die Frau im blauen Mantel“ (Rowohlt) den Finger in offene Wunden. In „Hand Me Down World“, so der Originaltitel, erzählt Jones von einer jungen Afrikanerin, die er auf einer Odyssee durch Europa bis nach Berlin begleitet.

„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, zitiert Kate De Goldi Wittgensteins berühmtes Wort. Für die vielfach preisgekrönte Autorin, deren psychologisch subtile Familiengeschichte „Abends um 10“ (Carlsen) nicht nur Jugendlichen etwas bietet, ist es ein konkretes Programm, nicht nur beim Schreiben. Seit vielen Jahren unterrichtet sie „Creative Writing“ im Rahmen des Programms „Writers in Schools“, das vor 35 Jahren vom New Zealand Book Council begründet wurde.

„Sprache ist ein Werkzeug, um zu verstehen, was es heißt, menschlich zu sein“, erklärt die Neuseeländerin mit irisch-italienischen Wurzeln ihren Schülern: „Wir sind anders, aber wir sind dieselben.“ Es lohnt sich, bei der Lektüre der jüngsten Bücher aus Neuseeland selbst herauszufinden, was das heißt.

Babette Kaiserkern

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