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Harmonie zwischen Mensch und Natur. Eines von Muellers Bilder aus der Ausstellung.
© Galerie Nierendorf

Otto Mueller in der Galerie Nierendorf: Ganz einfach

Kunst als Lebensform: Die Galerie Nierendorf zeigt Gemälde und Grafik des „Brücke“-Künstlers Otto Mueller.

Manche Bilder bezeugen prototypisch, was einen Künstler ausmacht: das Werk, individuelles Leben und die Widerwärtigkeiten seiner Zeit. Ein solches Werk ist Otto Muellers „Zwischen Bäumen stehendes Mädchen“, das die Galerie Nierendorf in einer Soloschau des Expressionisten zeigt. Ein Akt am Saum eines dunklen Waldes, kantig und souverän, wie es alle Frauenbilder Muellers auszeichnet. Das Bild trägt auf der Rückseite ein rot gestempeltes großes E und die Nummer 16558. Es ist das letzte von den Nationalsozialisten auf die Liste der „entarteten Kunst“ gesetzte und konfiszierte Werk.

Schaut man sich dieses schöne, mit Farbkreide kolorierte Aquarell an, kommt einem die entsetzliche, auch ästhetische Beschränktheit der damaligen Kunstrichter in den Sinn. Sicher entsprach die junge Frau nicht nationalsozialistischen Vorstellungen, und überhaupt wurde der expressionistische Stil als Provokation aufgefasst. „Hauptziel meines Strebens ist, mit größtmöglicher Einfachheit Empfindung von Landschaft und Mensch auszudrücken“, schrieb Mueller. Es ging ihm nicht um naturalistische Wiedergabe. Vielmehr sind Einfachheit und Empfindung jene Schlüsselworte, die dem Betrachter den besonderen Reiz seiner Kunst erschließen. Insofern tragen manche Lithografien etwas von Ernst Ludwig Kirchners Konzept des „ersten Sehens“ ins sich. Aber Muellers Schöpfungen sind streng komponiert, was schon die Arbeit am Lithostein verlangte.

Visionär der Liebe

Mit Ausnahme der „Zigeunermappe“ und wenigen anderen Sujets kreist Muellers Schaffen um den nackten Körper in der Landschaft. Die Harmonie zwischen Mensch und Natur war sein Thema. Er war auch ein Visionär der Liebe, die sich für ihn im realen Leben nicht erfüllte. Das „Zwischen Bäumen stehende Mädchen“ stellt „Maschka“ Maria Mayerhofer dar, seine erste Ehefrau, aber 1925, als es entstand, war er schon drei Jahre geschieden. Dennoch ist sie die einzige Frau, der er bis zu seinem Tod verbunden blieb.

Obwohl zur Idealfrau verklärt, hat Maschka in den Aktdarstellungen nichts Idyllisches. In dem wunderbaren Doppelporträt „Paar am Tisch“ kommt die spannungsvolle Balance zwischen Entfremdung und Zuneigung zum Ausdruck. Die Galerie bietet einen seltenen Druck dieser Farblithografie mit einer Auflichtung des gelben Steines an (65 000 Euro).

Er blieb ein Außenseiter

Das „Zwischen Bäumen stehende Mädchen“ gelangte in die Hände des von Göring für die Veräußerung „entarteter Kunst“ sanktionierten Händlers Bernhard A. Böhme, wechselte mehrmals den Besitzer und tauchte nach dem Krieg in Dahlem wieder auf. Als Meta Nierendorf und ihr Stiefsohn, der 2015 verstorbene Galerist Florian Karsch, vor dem Gemälde standen, war Karsch derart fasziniert, dass er es unbedingt kaufen wollte. Den damals horrenden Preis von 500 Mark zahlte er von dem für einen neuen Anzug angesparten Geld und in Raten von seiner Kriegsversehrtenrente ab. In dieser Zeit begann Karsch, kontinuierlich Otto Mueller zu sammeln, sodass in der Galerie Nierendorf später fast das vollständige grafische Werk vorlag. Karsch schrieb auch das bis heute gültige Werkverzeichnis der Grafik und wurde zum Experten, wenn es um die Identifizierung von Mueller-Fälschungen ging.

In der Dresdner Künstlervereinigung „Brücke“, die den deutschen Expressionismus aus der Taufe hob, wurde der schon etwas ältere Maler und Grafiker hoch geschätzt. Mueller inspirierte Kollegen, Schüler, Modelle, weil sich in seiner Person „Kunst als Lebensform“ zu verwirklichen schien. Aber er blieb, trotz enger Freundschaft zu Kirchner und Erich Heckel, ein Außenseiter. Dem ekstatischen Stil verweigerte er sich ebenso wie der scharfen Gesellschaftskritik anderer Expressionisten. Er mied Straßenszenen, Kokotten, all die Abgründe der industrialisierten Großstadt, und huldigte an den Moritzburger Teichen oder an der Ostsee lieber dem Motiv der Badenden.

Erst spät zeigte sich Muellers Sinn für die existenziellen Fragen des Menschen deutlicher. Mit großer Ehrfurcht vor dem Leben der Ausgestoßenen und Ruhelosen fühlt er sich dem fahrenden Volk verbunden. Seine „Zigeunermadonna“ mit Kind im Arm, Pfeife rauchend, ein Wagenrad als Heiligenschein, kann als Allegorie der Unangepasstheit des Künstlers selbst verstanden werden. Die „Zigeunermappe“ wurde 1927 erstmals in der Galerie ausgestellt. Immer wieder huldigten die Nierendorfs in gut besuchten Einzelausstellungen Muellers Werk. Weil ein zeitloses Ideal der Freiheit in unberührter Natur auch den modernen Menschen anspricht.

Galerie Nierendorf, Hardenbergstr. 19; bis 20. 9., Di–Fr 11–18 Uhr

Jens Grandt

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