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Ausufernde Gewalt: Sacco rekonstruiert die Stufen der Eskalation.
© Edition Moderne

Politik im Comic: Fußnoten des Grauens  

Aufklärerisch, vielschichtig, parteiisch: Comicautor Joe Sacco arbeitet in seiner eindrucksvollen Nahost-Reportage  „Gaza“ ein dunkles Kapitel der israelisch-palästinensischen Geschichte auf.

Es ist die berühmte Frage nach dem Huhn und dem Ei, die einem immer wieder in den Sinn kommt, sobald man sich dem Nahostkonflikt zuwendet. Die Frage zu stellen, welche der beiden Seiten die Gewaltspirale ausgelöst hat, scheint ebenso naiv, wie es unmöglich ist, sie zu beantworten. Je nachdem, mit wem man spricht, hat der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern eine andere Vorgeschichte.

Mit jedem neuen Waffengang in Nahost geraten die Wegmarken des Konflikts immer stärker in Vergessenheit, wären da nicht Historiker … und Künstler. Zuletzt holte der israelische Regisseur Ari Folman mit dem auch als Comic umgesetzten Film „Waltz with Bashir“ die Massaker von Sabra und Schatila während des ersten Libanonkrieges 1982 aus dem Dunkel der historischen Archive ans Tageslicht. In diesem Dunkel befanden sich auch die Ereignisse des Suezkriegs von 1956, bis sie der amerikanische Comiczeichner und Illustrator Joe Sacco entdeckt hat.

275 tote Zivilisten

In Rafah, einer Stadt im Gazastreifen, sollen israelische Einheiten 1956 ein Massaker an Palästinensern begangen haben, als sie nach Soldaten der ägyptischen Armee suchten. Sacco las davon in der Fußnote eines UN-Berichts, in dem von 275 toten Zivilisten die Rede war. Wenn diese Zahl stimmt, handelt es sich dabei um „das größte Massaker an Palästinensern auf palästinensischem Boden“, so Sacco. Dennoch ist das Ereignis in einer Fußnote verschwunden. Der Geschichte dieser und anderer Fußnoten widmet der Comicautor seinen bisher umfangreichsten Comic, den mehr als 400 Seiten starken Band „Footnotes in Gaza“, der jetzt bei Edition Modern erschienen ist

Joe Sacco ist kein Neuling in Sachen Nahostkonflikt. Schon Anfang der 1990er Jahre besuchte die Region. Seine Eindrücke und Erlebnisse verarbeitete er in zahlreichen Text-Bild-Geschichten, die 1996 unter dem Titel „Palästina – Eine Comic-Reportage“ erschienen. Mit seinem ersten Comic gewann er gleich den National Book Award. „Footnotes on Gaza“ ist dessen späte Fortsetzung. Zwischen den beiden Nahost-Bänden verfasste er die mit einem Eisner-Award ausgezeichnete Kriegsreportage „Bosnien“. Der Amerikaner gilt als einer der Begründer des Genres der politischen Comics. Mit seiner Mischung aus journalistischer Berichterstattung, historischer Tiefenrecherche und persönlicher Stellungnahme geht er in seinen Comics den Dingen auf den Grund. Seine Text-Bild-Reportagen stehen auf einer Stufe mit denen eines Art Spiegelman oder Jason Lutes.

Rekonstruktion der Realität: Eine Szene aus dem Buch.
Rekonstruktion der Realität: Eine Szene aus dem Buch.
© Edition Moderne

Geprägt von Gewalt und Zerstörung

In „Footnotes in Gaza“ konzentriert er sich bei der Betrachtung der politischen Situation im Nahen Osten auf den Konflikt zwischen Israel und Ägypten. Israel wurde 1956 vermehrt von ägyptisch-palästinensischen Freischärlern, den so genannten Fedajin, attackiert. Der noch junge jüdische Staat sah sich außerdem von der Idee des Panarabismus, proklamiert von Ägyptens Staatschef Gamal Abdel Nasser, in seiner Existenz bedroht, so dass Israel begann, konzertiert gegen die Angriffe vorzugehen. Im Schatten der Suezkrise fiel das israelische Militär in den von Ägypten besetzten Gazastreifen ein, um die palästinensischen Freischärler auszuschalten.

In bewährter Manier rekonstruiert Sacco in seinem Comic anhand von historischen Dokumenten, Augenzeugenberichten und persönlichen Erinnerungen diesen zur Fußnote verkommenen Teil der israelisch-palästinensischen Geschichte. Dabei konzentriert er sich auf zwei Vorfälle in den benachbarten Städten Khan Younis und Rafah, wo 1956 insgesamt 386 Palästinenser ums Leben gekommen sind.

Ausgangspunkt seiner Dokumentation ist die eigene Recherche in der von Gewalt und Zerstörung geprägten Umwelt des Gazastreifens. Sein emsiges Suchen nach Zeitzeugen und ihren Geschichten sowie seine Interpretation der auf ihn einwirkenden Eindrücke bilden den übergreifenden Zusammenhang all seiner Text-Bild-Reportagen.

Drohgebärden, Schläge, Schüsse

Aus den verschiedenen Perspektiven der Überlebenden und Hinterbliebenen, mit denen er in Gaza gesprochen hat, versucht er, einem gigantischen Puzzle gleich, ein Gesamtbild der Ereignisse herzustellen. Was sich ihm dabei offenbart, ist ein Bild ausufernder Gewalt. Die Suche nach Mitgliedern der Fedajin artet zu einem wilden Zusammentreiben palästinensischer Männer durch das israelische Militär aus, bei dem es auch zu willkürlichen Tötungen und konzertierten Erschießungen gekommen ist.

Sacco zeigt, wie die Maßstäbe verrutschen, wie aus Drohgebärden Schläge und aus Schlägen Schüsse werden. Es wird deutlich, wie die israelischen Soldaten jede Verhältnismäßigkeit vermissen lassen. Die Täter- und Opferrollen sind dabei klar verteilt. Klagende Witwen und wehrlose Männer auf der einen, eine übermächtige, alles kontrollierende Militärmaschine auf der anderen Seite – dies ist das Bild, welches Sacco für das historische und das gegenwärtige Gaza zeichnet.

Saccos Comics leben von einem Text-Bild-Verhältnis, welches nicht immer ausgewogen ist. Die meist nach Fotografien reproduzierten, detailliert ausgeführten Schwarz-Weiß-Zeichnungen sind oft von massiven Textblöcken unterbrochen. Diese sind Resultat der journalistischen Recherche, die Sacco für seine Projekte betreibt. Neben den Gesprächen mit den Menschen vor Ort verschlingt er zahlreiche Bücher, um sich selbst eine Grundlage zu schaffen. Sein Ansatz, mit vielen Erzählungen und Geschichten ein Panorama der Ereignisse zu rekonstruieren, bringt die Textlastigkeit mit sich. Text und Bild ergänzen sich in kongenialer Weise, etwa wenn die als Text wiedergegebene Erzählung der Zeitzeugen fließend in die grafische Realisierung übergeht.

Parteiischer Beobachter: Immer wieder zeigt Sacco auch seine eigene Rolle in der Aufarbeitung der Geschichte.
Parteiischer Beobachter: Immer wieder zeigt Sacco auch seine eigene Rolle in der Aufarbeitung der Geschichte.
© Edition Moderne

Widersprüche als Teil der Wahrheit

Im Produktionsprozess fällt Sacco eine undankbare Rolle zu. Er muss über Plausibilität, Glaubwürdigkeit und historische Relevanz des Gehörten urteilen. Das Zusammensetzen des Puzzles wird zur Geschichtsschreibung. Diese ist durchaus fragwürdig, weil sie viel zu einseitig erfolgt und keinem wissenschaftlichen Kriterium genügt. Zugleich ist sie aber auch zu loben, weil die Berufung auf die unterschiedlichen Erinnerungen seiner Gesprächspartner Licht in das Dunkel dieses historischen Kapitels bringt.

Unstimmigkeiten und Abweichungen in den Erzählungen unterschlägt Sacco nicht. Als Teil einer psychologischen Wahrheit, die nicht immer der historischen Wirklichkeit entspricht, mutet er sie seinen Lesern zu. Saccos Geschichtsschreibung eröffnet derart den Zugang zu einem kollektiven palästinensischen Gedächtnis, das der politischen Gegenwart den Handlungsrahmen vorgibt. Dabei sind die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion durchlässig. Der Ambivalenz dieser palästinensischen Identität aus erzählter Geschichte ist sich der Amerikaner bewusst. Die Frage, wo die Wahrheit endet und der Mythos beginnt, schwingt daher immer mit.

Neben der Ebene der historischen Reportage existiert in „Footnotes in Gaza“ noch die des aktuellen Zeitgeschehens. Immer wieder kehrt der Autor zum Ausgangspunkt des Comics, seiner Recherchereise, zurück. Er reflektiert die Folgen der militärischen Besatzung, die er täglich sieht und spürt, wenn auch viel weniger, als die Palästinenser. Dabei schildert er seine persönlichen Eindrücke vom Leben im Gazastreifen und erläutert die sozialen und politischen Fakten, mit denen die Gazaer täglich konfrontiert sind – angefangen von den innerpalästinensischen Rivalitäten über die Perspektivlosigkeit der Bewohner des Gaza-Streifens bis hin zu den weitgreifenden Zerstörungsaktionen des israelischen Militärs. So kommentieren die Gegenwartsbeschreibungen permanent die historischen Ereignisse und umgedreht.

Gestern Ort des Massakers, heute reinlicher Parkplatz

Spektakulär ist dabei Saccos Umgang mit der Dimension der Zeit, die hier eine bedeutende Rolle spielt und im Comic meist über Panelgrößen transportiert wird. Sacco überführt dieses Prinzip in andere Strukturen. Die Sprünge zwischen Gegenwart und Vergangenheit bewältigt er, indem er die Bilder der Vergangenheit neben die Eindrücke der Gegenwart stellt. Die heute unsichtbare Geschichte holt Sacco durch ihre grafische Realisierung ins Bewusstsein zurück. Denn die Schauplätze des Grauens von gestern, die immer noch in den Köpfen vieler Palästinenser sind, wirken heute harmlos und unverdächtig. Wo in der Rückschau noch blutverschmierte Leichen liegen, ist im Hier und Jetzt ein reinlicher Parkplatz. Die Vergangenheit wird von den Realitäten der Gegenwart verdrängt. Die Grenzen zwischen Geschichte und Gegenwart verschwimmen dabei. Dies spiegelt den gesamten Konflikt, in dem die Ereignisse der Vergangenheit immer wieder zur Rechtfertigung der gegenwärtigen Gewalt herangezogen werden.

Joa Sacco gelingt es in „Footnotes in Gaza“ auf faszinierende Weise, die großen und kleinen Linien des Nahostkonfliktes grafisch zu durchlaufen – wenngleich nur aus palästinensischer Perspektive. Sein Comic ist hoch aktuell, wenngleich sich die politischen Verhältnisse seit seiner Reise in den Jahren 2002 und 2003 enorm gewandelt haben. Denn ausschlaggebend für einen Zugang zu diesem Konflikt ist nicht allein die Berücksichtigung der aktuellen Ereignisse, sondern das kollektive Gedächtnis auf beiden Seiten.

Israels Perspektive ist nicht sein Ziel

Man kann Sacco vorwerfen, dass er die israelische Perspektive nahezu völlig ignoriert, ihr sind nur wenige Panels gewidmet. Seine Antwort auf diese absehbare Kritik würde wohl folgendermaßen ausfallen: „Was soll ich dazu sagen? Ich sage, dass ich mein Leben lang nur die israelische Seite gehört habe, dass ich, um Israel kennen zu lernen, eine ganz andere Reise machen müsste, dass ich gern mit Israelis reden müsste, aber darum war ich ja nicht hier.“ Dies zumindest antwortete er einer Israelin, die ihn in seinem ersten Palästina-Comic fragt, ob er nicht auch die israelische Seite der Geschichte sehen sollte.

Aber um diese Perspektive ging es ihm nicht, dafür reiste Joe Sacco nicht nach Gaza. Er wollte von Anfang an einem von israelischen Soldaten an Palästinensern verübten Massaker auf den Grund gehen, welches in den Untiefen der Geschichte verschwunden war. Dies hat er getan, und das unschöne Bild eines unverhältnismäßigen Vorgehens israelischer Soldaten zulasten der Palästinenser hat sich bestätigt.

Joe Sacco: Gaza, Edition Moderne, 432 Seiten, 34 Euro, Leseprobe unter diesem Link.

Hinweis: Dieser Text ist eine aktualisierte Fassung der Rezension, die auf den Tagesspiegel-Comicseiten bereits im Juni anlässlich der Veröffentlichung der englischsprachigen Orginalausgabe des Buches veröffentlicht wurde.

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