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Der Jüdische Friedhof Weißensee.
© Tsp-Archiv

Jüdischer Friedhof Weißensee: Für immer und ewig

115 000 Gräber, 115 000 Schicksale: Der jüdische Friedhof in Weißensee ist ein Geschichtsbuch. Grimme-Preisträgerin Britta Wauer hat mit ihrem Dokumentarfilm ein Kapitel hinzugefügt.

Wind streift das Ohr, ein Vogel ruft. „Der Habicht – da ist sein Nest.“ Britta Wauer zeigt in die Baumkronen. Ein paar Gräber weiter wickelt eine Frau Tulpen aus knisterndem Zellophan. Nur die Filmmusik spielt an diesem Februarmorgen nicht. Berückend ist sie und süß, mal schwer von Trauer und Erinnerung, mal tänzelnd wie streicherseliger Walzer.

In Britta Wauers Dokumentarfilm „Im Himmel, unter der Erde“ über den jüdischen Friedhof Weißensee, der Sonntag auf der Berlinale Premiere hat, erklingt mehr Musik als Friedhofsstille. Im Herzen hallt sie nach und geht von einem Grab zum andern mit.

Ein weißer Marmortempel, berankt mit steinernen Blüten. „Rosalie Ernst – rührend“, erklärt Britta Wauer, „der hat ihr Mann ein Gedicht ins Mausoleum geschrieben.“ In gülden glänzenden Lettern. 115000 Menschen sind auf dem 1880 gegründeten Friedhof bestattet. 42 Hektar ist das verwunschene Gelände im Nordosten Berlins groß. Der größte jüdische Friedhof Europas, auf dem noch beerdigt wird. Fürs Unesco-Weltkulturerbe vorgesehen. Berühmtheiten wie der Maler Lesser Ury, der Hotelier Kempinski, die Verleger Samuel Fischer und Rudolf Mosse liegen hier, Friedhofsarchitektur und -kunsthistorie füllen Bücher. Aber nicht das, das die studierte Journalistin und Regisseurin im vergangenen Jahr als Zweitprojekt zum Film im Bebra-Verlag herausgebracht hat. Und eben auch nicht den Film.

Den füllen Menschen. „Im Himmel, unter der Erde“ ist ein Friedhofsfilm, wie er lebendiger nicht sein kann. Traurig und lustig. Mit lakonischen Helden wie dem Friedhofsverwalter, der sich eher wie ein Museumsdirektor fühlt und einem Rabbiner, der entwaffnend ratlos über Jenseitsfragen spricht. Mit den den Friedhof bevölkernden Schülern, Vogelfreunden, Friedhofsarbeitern, Soldaten, Polizisten, Wohnungsmietern, Sargtischlern. Und vor allem mit den Familien, deren noch nie erzähltes Schicksal von der Kaiserzeit über Weimarer Republik, Nazizeit und DDR bis heute hinter den Grabsteinen steckt.

Regisseurin Britta Wauer.
Regisseurin Britta Wauer.
©  Doris Spiekermann-Klaas

Jetzt rechts rum, den Querweg entlang. „Da steht das Mausoleum Aschrott“, sagt Britta Wauer und rollt mit den Augen. Die pompöse Scheußlichkeit aus rotem Granit ist das größte Mausoleum des Friedhofs, 1904 erbaut von Bruno Schmitz, dem Architekten des Völkerschlachtdenkmals. Die verarmten Nachkommen der reichen Bankiersfamilie wollen das Ding gerne abbauen und verkaufen, erzählt Wauers Film. Nichts da, antwortet ihnen die Verwaltung: auf einem jüdischen Friedhof ist alles für immer und ewig. Grababräumen gibt es nicht. Zum Glück. „Weißensee ist wie ein Geschichtsbuch“, sagt Britta Wauer, die sich auf die filmische Kunst versteht, Chronologie und Jahreszeitenzyklen ganz unauffällig als Ordnungsmomente ihres idyllischen Bilderreigens aus Friedhofsmotiven, Familienfotos, Interviewsequenzen und historischem Filmmaterial einzusetzen.

„Ah, Familie Krieger, da kommt eine Angehörige aus London im Mai zum ersten Mal nach Berlin.“ Weil Wauer sie aufgespürt hat. Wie so viele andere. Seit 2006 läuft ihre Spurensuche für das Buch und den von 2008 bis 2010 gedrehten Film jetzt schon. So lange geht die in Mitte geborene, gerade mal 36 Jahre alte, aber schon mit dem Deutschen Fernsehpreis und dem Grimmepreis dekorierte Filmemacherin hier herum.

Dabei wollte sie das gar nicht. Erst habe sie eine Aversion gegen die Idee gehabt, einen Friedhofsfilm zu machen, erzählt sie. Zu tot, wie soll man das ansehnlich machen? Umgestimmt haben sie die vielen hundert Briefe mit kleinen Andenken und sorgsam gehüteten Fotos, die sie nach einem Zeitungsaufruf bekam. Natürlich spielen Holocaust, Emigration und Rückkehr dabei eine große Rolle, aber „Im Himmel, Unter der Erde“ ist kein Judenverfolgungsfilm. „Das wäre so arm, die jüdische Kultur darauf zu reduzieren“, sagt Britta Wauer. Natürlich ist die Totenstadt in Weißensee für sie ein Ort des Respekts vor den Ermordeten, aber vor allem ist sie ein „kostbarer Schatz, der vielen Berlinern unerkannt vor der Nase liegt“.

Da leuchtet beim Vorbeiwandern an weißem Marmor und schwarzem Granit, an schwelgenden Metallblüten und wucherndem Efeu auch ein, warum Weißensee für sie ein Grund zum musikalischen Schwelgen ist. „Diese Pracht braucht eine große, traumhafte Filmmusik.“ Das ist eines ihrer wichtigsten Ausdrucksmittel. Geschrieben hat die mit 70 Orchestermusikern eingespielte Partitur wieder Karim Sebastian Elias, der schon Wauers Film „Gerdas Schweigen“ preisgekrönt vertont hat. Ganz schön spielfilmhaft für eine Dokumentation. Wauer nickt und grinst: „Meine Filme sind das Gegenteil der Berliner Schule.“ Stimmt, ihr Friedhof ist eher märchenhaft als nüchtern, trotz der Tragödien und historischen Fakten.

Am Friedhofseingang an der Herbert-Baum-Straße steht eine schwarze Menschentraube vor der gelben Ziegeltrauerhalle. Um elf wird Moisey Brandriemer beigesetzt, erklärt ein Anschlag und nennt Feld, Reihe, Grabnummer. Wäre schön zu wissen, wer der wohl war.

„Ende“ steht am Schluss von Britta Wauers Weißensee-Film. Warum? Sei ja ein Friedhofsfilm, sagt sie, da könne man endlich mal „Ende“ schreiben. Auch wenn ein jüdischer für ewig ist.

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