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Foto: Dirk von Lowtzow
© Axel Heimken/dpa

Tocotronic im Huxleys: Für dich bleib ich nüchtern

Kann man 20 Jahre dabei sein, sehr erfolgreich sogar - und trotzdem immer schön neben dem Mainstream bleiben? Tocotronic beweisen es. Live ganz besonders.

Mann sein, um die 40, und seit 20 Jahren mit den besten Freunden Rock machen: herrlich. Und dann schon wieder ein gutes Album: umso besser. Tocotronic fangen im Huxleys mit dieser neuen, zehnten CD „Wie wir leben wollen“ an, spielen als Erstes das Titelstück, qua Formulierung so typisch wie alles der verkopften Berlin-Hamburger Diskurs-Band, aber live noch mal eine ohrenbetäubende Klasse drüber. Je größer das Publikum, so scheint es bei der Gruppe um Texter, Sänger, Gitarrist Dirk von Lowtzow, desto druckvoller wird auch das Konzert, desto mehr Emotionen meint man auf der Bühne wahrzunehmen. Hat von Lowtzow live immer schon diese ganz leicht in Richtung Feargal Sharkey vibrierende, lebendige Stimme gehabt? Immer schon so eindringlich geklungen wie ein desperater Liedermacher, nur mit mehr Rock, mehr Mitten und weniger Akkorden?

Vielleicht. Aber im Huxleys stimmt es besonders gut mit Publikum, Lightshow und mit der Stimmung, die – so läuft das eben nach 20 Jahren Musikgeschichte – von begeisterten, treuen, mitsingenden Fans gestaltet wird. Fans, die jeden Song lieben, „Let There Be Rock“ zum Beispiel. „Verflixt noch mal, let there be rock“, singt von Lowtzow da irgendwann, und es klingt doppelt so ehrlich und richtig wie auf Platte. „Aber hier leben, nein danke“ kommt ebenfalls, nach einem in der Anmoderation platzierten Seitenhieb auf die Anti-Flüchtlingsheim-Demonstrationen von national denkenden Anwohnern in Hellersdorf und anderen Bezirken. Tocotronic spielen „Hi Freaks“, nach einer kurzen, aber flammenden Ansprache von Lowtzows zum Thema Außenseitertum, und „Sag alles ab“ aus dem schönen Album „Kapitulation“ von 2007, der zweiten Platte, die die Band bei Universal herausbrachte, weil es Hamburgs eigene Independentperle L’age d’or nicht mehr gab.

Und während man die Arme vor lauter Freude gar nicht mehr sinken und das Mitgrölen nicht mehr versiegen lassen mag, bedenkt man, wie weit sich diese Band in ihren zwei Jahrzehnten vom Mainstream ferngehalten hat – was allein keine Voraussetzung für tolle Musik ist, aber eine allemal bemerkenswerte Tatsache. Wobei die Band dies vielleicht nicht einmal bewusst so angelegt hat, aber mit der größtmöglichen künstlerischen Freiheit im Kopf. Einer Freiheit, die man sich beim Erwachsenwerden erkämpft, unter anderem durch die – live viel weniger steife – Intellektualität der Texte, die auch auf der neuen Platte geblieben ist. Das lässt sich nicht einfach abstellen.

„Ich will für dich nüchtern bleiben“, singt von Lowtzow auf dem Album und im Huxleys, „ich will high sein und doch auf dem Boden kleben.“ Das lässt sich wunderbar in Richtung Reife überinterpretieren. Denn worüber singen schließlich junge, noch unerfahrene Leute? Über das Gegenteil, über das Besoffensein, das Sich-Abschießen, über das, was in dem kongenialen Videoclip zum Nüchtern- Song anklingt, in dem ein grauhaariger Bar-Arbeiter im Hamburger Golden Pudel Club nachts seinem Job nachgeht, leere Flaschen einsammelt, unbeeindruckt vom Saufen, Tanzen und Flirten um ihn herum, und zwischendurch in seinen Kaffee pustet. Age becomes them – ja, das ist es, während Tocotronics Nüchtern-Song wie eine Gitarrengranate von The Jesus & Mary Chain herübergebrettert kommt. Schon erstaunlich, wie viel Grandioses man mit einer Handvoll Akkorden anstellen kann. Man muss halt nur wissen, wie’s geht.

Jenni Zylka

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