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Natascha Kampusch: Fünf Quadratmeter Österreich

Bernd Eichingers letztes Kinoprojekt: „3096 Tage“ will das Martyrium der Natascha Kampusch nachempfinden. Regisseurin Sherry Hormann setzt auf die Mittel des klassischen Erzählkinos und eine internationale Schauspielerriege.

Die Kamera zoomt auf ihr Gesicht, immer wieder, das macht sie bei den anderen Gästen von Günter Jauch nicht. Natascha Kampusch spricht leise, wie immer, klug, eloquent und ein wenig beflissen, als sei die Talkshow eine Prüfung. Sie nickt zustimmend zu dem, was sie sagt, und bei diesem Nicken kommt einem der Gedanke, dass sie noch sechs Jahre nach ihrer Selbstbefreiung aus achtjähriger Gefangenschaft womöglich mit sich allein ist. Dass Kampusch nur sich selbst als Gegenüber hat. Sie ist beides in einem, Talkmoderatorin und Gast, Medienstar und Öffentlichkeit. Sie will es recht machen und sich dabei nicht vereinnahmen lassen.

Es ist Sonntag, der 17. Februar 2013, Kampuschs 25. Geburtstag. Wenn sie zögert, schweigt oder „ich weiß es nicht“ sagt, bekommt die Talkroutine feine Risse. Sofort serviert Jauch Antworten an Kampuschs Stelle, und man erschrickt über den eigenen Voyeurismus, der noch im Ärger über die voyeuristische Kamera mitschwingt. Selbst der Respekt vor dieser jungen Frau, die mit zarter Stimme den Opferstatus verweigert und auf der Deutungshoheit über ihr Leben beharrt, hat auch etwas Übergriffiges.

15 Jahre ist es her, dass Natascha Kampusch entführt wurde. Am 2. März 1998 hatte der Fernmeldetechniker Wolfgang Priklopil das Mädchen auf dem Schulweg in einen weißen Lieferwagen gezerrt und sie von ihrem 10. bis zum 18. Lebensjahr in einem Fünf-Quadratmeter-Kellerverlies in Wien-Strasshof eingesperrt, hatte sie misshandelt, missbraucht und an den Rand des Hungertods gebracht, bis ihr im August 2006 die Flucht gelang. Sie tritt im Fernsehen auf, schließt die Schule ab, beginnt eine Goldschmiedelehre, sieht sich Gerüchten über weitere Mittäter, Hasstiraden im Internet und wüsten Unterstellungen ausgesetzt, veröffentlicht ein Buch über ihr Martyrium und trifft sich mit Produzent Bernd Eichinger, der ihre Geschichte verfilmen will.

Aber Eichinger stirbt Anfang 2011, Ruth Thoma beendet sein Drehbuch, sein letztes Projekt. Unter Regie von Sherry Hormann („Wüstenblume“) wird es mit Kampuschs Zustimmung realisiert. Auf Englisch mit britischen und dänischen Schauspielern. Michael Ballhaus, der mit Hormann verheiratet ist, kehrt noch einmal an die Kamera zurück. Ausgerechnet Ballhaus und sein fliegendes, schwebendes Kameraauge: Eingepfercht in einen winzigen Raum tief unter der Erde, wird auch die Kamera der Freiheit beraubt.

Der Film skandalisiert Kampuschs Schicksal nicht

„3096 Tage“. Der Film trägt den gleichen Titel wie Natascha Kampuschs Buch und ist doch etwas ganz anderes. Im Buch schickt Kampusch Kassiber aus ihrem äußeren wie inneren Gefängnis, es ist ihre Version dessen, was geschah: ihr Erleben, ihre Wahrnehmung, ihre elaborierte Sprache (nach zwei Jahren gestand der Täter ihr ein Radio zu, sie hörte oft Bildungssendungen), ihre Selbstreflexion. Einschließlich der Weigerung, über Priklopils sexuelle Übergriffe zu schreiben. Einschließlich des Protests gegen jene Küchenpsychologie, die das komplizierte Verhältnis zwischen Opfer und Täter schnell mit dem Stockholm-Syndrom abtut.

Auch der Film beginnt mit der Binnenperspektive, komprimiert die Kindheit auf wenige Szenen und zeigt erst mal Bewegungsfreiheit: die 18-jährige Kampusch beim Skifahren – als der Täter sie bereits öfter mit nach „draußen“ nahm, für die wahnhafte Illusion vom restlos gefügigen Frauengeschöpf. Eine einsame Gestalt mitten in gleißendem Weiß, die denkbar größte Weite, die totale Isolation, Seelenlandschaft eines Kellerkinds – ein hyperreales, eindrückliches Bild. Aber davon gibt es leider nicht viele.

Im Buch beschreibt Kampusch die Finsternis, wenn Priklopil das Licht im Verlies löscht, auf der Leinwand ist selbstredend immer etwas zu sehen. Im Buch bekommt man eine Ahnung von der sich unerträglich dehnenden Zeit: das Ticken der Uhr, das Abstreichen des Kalenders, die Wohnungsrenovierungen, bei denen sie bis zur Erschöpfung schuftet, die Weihnachtsfeste ohne Familie, die wiederholten Suizidversuche. Der Film springt vier Jahre nach vorn, von der pummeligen Zehnjährigen (verzweifelt-trotzig: Amelia Pidgeon) zur knochig abgemagerten Pubertierenden (Antonia Campbell-Hughes). Für die Zermürbungstaktik des psychopathischen Täters, mit der er den Willen des Mädchens brechen will, findet der Film allenfalls standardisierte Effekte. Immer wieder die Zeitlupe, immer wieder bedrohliche Soundcollagen samt gleichsam ersticktem Originalton. Eine halbwegs wahrhaftige Empfindung für die entsetzliche Dauer von Natascha Kampuschs Agonie und die Zähigkeit ihrer Gegenwehr vermittelt all das nicht.

Wie setzt man jene Überlebenstechnik des geschundenen Mädchens in Szene, sich bei Priklopils Gewaltattacken von sich selber abzuspalten? Ein Blick in den Spiegel, der ihr Gesicht fragmentiert, das hätte ein Inbild werden können. Aber Hormann gewinnt ihm ebenso wenig Intensität ab wie der unter Klaustrophobie leidenden Kameraführung. Und die wie abgetrennt wirkende Synchronisation befremdet eher auf unfreiwillige Weise.

Oder der Hunger, jener stetig quälende, apathisch machende, lebensgefährliche Hunger. Wieder kommt lediglich die Zeitlupe zum Einsatz, beim Duell um den Bratfisch, den sie sich in den Mund stopft, bis er ihn ihr wieder herauswürgt. Klar, der Film will redlich bleiben und Kampuschs Geschichte nicht zur reißerischen Story skandalisieren. Er nimmt auch andere Perspektiven ein, zeigt den Täter (Thure Lindhart als kindlich-perverser Muttersohn) allein in seiner Wohnung oder Nataschas Mutter (Trine Dyrholm) weinend an Weihnachten. Aber „3096 Tage“ illustriert, statt zu imaginieren, entwickelt keine Haltung zu seinem Stoff.

Natascha Kampuschs Gefangenschaft sprengt jede Vorstellungskraft

Es ist nicht die erste filmische Annäherung an die Tragik aktueller Kindesentführungen. Markus Schleinzer gewann mit seinem österreichischen Kammerspiel „Michael“, einer Versuchsanordnung über das Weggesperrtsein und die monströse Alltagsnormalität eines pädophilen Täters, den Max-Ophüls-Preis 2012. „À moi seule“, Frédéric Videaus Studie über die Strategien, die Einsamkeit und die Selbstbefreiung eines Entführungsopfers, lief letztes Jahr im Berlinale-Wettbewerb. Wie dessen Protagonistin Agathe Bonitzer bleibt auch Antonia Campbell-Huges’ Gesicht vampirblass. Aber bei ihrer bis zum Skelett abgemagerten Gestalt denkt man meist nur daran, dass da eine Schauspielerin Natascha Kampusch verkörpert und für die Rolle tapfer gehungert hat.

Kino ist die Möglichkeit, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Nicht mittels Sozialrealismus, sondern mithilfe der Vorstellungskraft, die sich an extremen Emotionen entzündet, an Furcht und Mitleid, Schmerz, Todesangst, radikaler Empathie. Vielleicht sprengen die 3096 Tage von Natascha Kampuschs Gefangenschaft jede Vorstellungskraft. Sherry Hormanns Film dringt bis in diese Dimension nicht einmal vor. Bestenfalls lässt er sich als Symptom jener Hilflosigkeit und Überforderung ansehen, mit der die Öffentlichkeit jenseits der Sensationsgier einer Überlebenden wie Natascha Kampusch begegnet.

Aus Gründen des Opferschutzes waren jene Passagen in den Vernehmungsprotokollen geschwärzt worden, in denen sie über ihren sexuellen Missbrauch Auskunft gab. Mittlerweile seien die Passagen an die Öffentlichkeit gelangt, sagt die 25-Jährige auf Günter Jauchs Frage, warum im Film anders als im Buch auch sexuelle Übergriffe thematisiert werden. Der Täter liegt auf ihr, die Kamera zeigt das Gesicht des an Priklopil gefesselten, stumm die Vergewaltigung erduldenden Mädchens. Als die Szene sich später wiederholt, beginnt auch sie zu stöhnen. Weil „alles“ gezeigt werden muss? Für welchen Wahrheitsbegriff beraubt der Film Natascha Kampusch ihres Opferschutzes und ihres letzten Rests von Privatheit? Der Kamera scheint die konventionell aufgelöste Szene peinlich zu sein. In diesem Moment lässt sie ihre Leidensgenossin allein.

Ab Donnerstag in 15 Berliner Kinos.

Christiane Peitz

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