Rodolphe Töpffer: Fuck you, Goethe
Von Goethe geliebt, von Doré kopiert – Rodolphe Töpffer war ein Pionier der Bilderzählung und verhalf dem noch jungen Medium während der Biedermeier-Zeit zu erster Form.
Das jetzt vielerorts erklingende „Vielleicht gäbe es ohne Goethe keine Comics“ angesichts der Veröffentlichung von „Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois“ ist natürlich genauso ein Unfug wie die gelegentlich kolportierte Behauptung, Goethe hätte „den“ Rap vorweggenommen. Denn, so steht es geschrieben: „Weiße Jungs bringen’s nicht.“
Die Denkweise der Apologeten der Graphic Novel jedoch, der stets ein Sturm und Drang zum Herstellen hochkultureller Bezüge zur „Genieperiode“ und zum Nachteil des gemeinen Vergnügens innewohnt, ist in vielen Köpfen; siehe auch die Verlagswerbung mit Goethe auf der Rückseite der aktuellen Ausgabe von Eckart Sackmanns Postille „Comics Info“, ein der Graphic-Novel-Lobhudelei eher unverdächtiges Werbemittel. Umso ansichtiger wird die beschriebene Denkweise in der von Comicautor Simon Schwartz verfassten Einleitung zum hier besprochenen Band: Komik raus, Dramatik rein ... et voilá, un roman graphique! Der Grenzzaun zwischen U- und E-Kultur ist derart gefestigt, dagegen war selbst die Berliner Mauer ein Witz, wenn auch kein besonders komischer, und somit wohl eher kein Fall für eine Darstellung im althergebrachten Sinn von „wonderfully vulgar“.
Weitblick durch schlechte Sicht
Nun also Töpffer, ein Pionier des Comics, zumindest nach diversen Lesarten von dem, was einen Comic ausmacht. In Glasgow sehen sie das allerdings anders, denn „The Glasgow Looking Glass“, einen Tick älter als Töpffers Bildgeschichten und die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts „erste massengefertigte Publikation, die Illustrationen zum Erzählen nutzte“, würde da vielleicht auch noch gern ein Wörtchen mitreden. Im Gegensatz zu Töpffers liebestollem Monsieur Vieux Bois, Stiftschwinger Monsieur Pencil und dem botanisch anmutenden Monsieur Cryptogame gebieten beispielsweise Billy the Bully und Ranting Dan aus Paul Prys „History Of A Coat“ über Sprechblasen, von deren Einsatz sie, ganz ihren Namen gehorchend, rücksichtslos Gebrauch machen.
Töpffers Bildgeschichten lassen dieses spezifische Charakteristikum vieler Comics zwar vermissen, allerdings entwickelte der durch ein Augenleiden verhinderte Maler und so zum Comicgewerbe getriebene Lehrer aus Genf Bildsprache und Vokabular des sich noch in den Flegeljahren befindlichen Mediums weiter. Ironischerweise beinhaltet Töpffers Biografie sämtliche gängigen Vorurteile gegenüber dieser von einigen als Bastard aus bildender Kunst und Literatur empfundenen Kunstform, die man so am Wegesrand finden kann, oder „Für richtige Kunst hat’s eben nicht gereicht“.
Doch zurück zu den Inhalten: Töpffers Geschichten weisen einen sequentiellen Ablauf auf, die Einzelbild-Statik diverser Vorgänger und Geistesverwandter wie William Hogarth und Konsorten erfährt hier einen Aufbruch. Auch sind gelegentlich perspektivisch angelegte Dynamisierungen zu verzeichnen, ebenso der zaghafte Versuch der Etablierung erster Speedlines; gut zu beobachten am Beispiel des vom am Fluss befindlichen Mühlenrades herabhängenden Nebenbuhlers von Monsieur Vieux Bois: Das von ihm herabfließende Wasser in Gegenrichtung der Mühlenraddrehung sorgt für einen vagen kinetischen Moment. Dieses für damalige Verhältnisse wilde Auf und Ab geht einher mit diversen Freitodversuchen der mit den Zügen eines Stalkers versehenen Hauptfigur, welche unablässig ihrem Objekt der Begierde nachstellt, die bestimmungsgerecht nur als „das geliebte Ding“ firmiert.
Es gibt Running Gags mit Hund, Pferd und Objekt über Mangelernährung, den daraus ableitbaren Stellenwert der Frau erklären wir mal mit „es war halt eine andere Zeit“; laut seines Namens ist Monsieur Vieux Bois eh aus altem Holz geschnitzt. Wobei sich die Frage stellt, ob der Name nicht eine verbale Verdrehung und Verballhornung von Bayeux ist, aber bleiben wir lieber auf dem Teppich. Die als plötzliche Widersacher auftauchenden und offensichtlich nur als Plot Point eingeführten Mönche, hier nutzte Töpffer Praktiken aus dem Repertoire der Vielschreiber, enden als Köpfe in der Erde, und Gustave Doré, sich am Anfang seiner künstlerischen Laufbahn noch als Epigone Töpffers betätigend, muss diese Anregung wohl äußerst nachhaltig verinnerlicht haben.
Fließbande Dessinée
Ein weiteres Merkmal serieller und sequenzieller Produktion, vergessen wir nicht, der moderne Comic ist auch Ergebnis von industriellen Produktionsprozessen, ist das Weglassen aufwändiger Details. Diese Praxis macht das Zeichnen von Massenszenen obsolet, ein heute im Medium üblicher Zeitsprung zwischen zwei Bildfolgen genügt, und das Ereignis kann feder- und handgelenkschonend im unter den Zeichnungen befindlichen Text abhandelt werden.
Apropos Feder, der Strich Töpffers ist, eventuell gleichfalls der Logik optimierender Produktionsprozesse folgend, oft von recht kritzelig-skizzenhafter Beschaffenheit. Wenn er mehr plastisches Volumen durch den Einsatz von detailliertem Feinstrich erzeugt, erinnert er mitunter an einen Vorläufer Friedrich Karl Waechters, was an Hand des Deckblatts für „Voyages et Aventures du Dr. Festus“ besonders augenfällig wird.
Gleiches gilt für die eröffnende Sequenz von „Monsieur Pencil“, dessen Deckblatt zudem mit der Typografie als Element des Bildes spielt. Wie überhaupt das Originallettering bedingt durch Töpffers ausbalanciertes Schriftbild recht ansehnlich ist. Insgesamt ist vier Jahre später, im Entstehungsjahr 1831, die zeichnerische Routine Töpffers gereifter, das Gesamterscheinungsbild wirkt stimmiger und geschlossener. Nach den eher banalen Kamalitäten des Monsieur Vieux Bois weht hier thematisch ein schärferer Wind aus vielen Richtungen, von Himmel bis Gedärm: was nicht nur zur Konstruktion von dem Erzählrhythmus und -tempo angepassten Panelfolgen mit unterschiedlichen Schauplätzen sowie interagierenden Handlungssträngen führt, sondern auch zur Etablierung des Furzwitzes im Werk Töpffers.
Obendrein findet sich eine kritisch-agitierende Note, die den Lebensbedingungen der Erwerbsabhängigen jener vergangenen Zeit gewidmet ist. Ein galligerer Humor ist zu bescheinigen, der bis ins Schwarzhumorige tendiert und mit mehr Toten im Handlungsverlauf einhergeht. Eine weitere Vorahnung auf Speedlines bieten die „heißlaufenden“ Telegrafenmasten, die durch ihre im Tumult befindlichen Kabel eine Vision von den Dingen vermitteln, die da comicentwicklungsgeschichtlich noch auf uns zukommen sollten. Beim Darstellen des Entweichens von physikalischer Energie oder Objekten aus Öffnungen nutzt Töpffer diese Art der Bewegungsabläufe unterstreichenden Abstraktion schon, so beim vor Feistheit platzenden Ross von Monsieur Vieux Bois oder auch beim Rauswurf eines Teils der unfreiwilligen Reisegesellschaft aus dem Walfischinneren im ein Jahr vor „Monsieur Pencil“ verfassten „ Die Geschichte des Monsieur Cryptogame“ (1830). Noch ansichtiger wird man dieser später zum bildsprachlichen Standardrepertoire der Comics zählenden Technik am Beispiel eines über Bord geworfenen Piraten, der im Meer landet.
Töpffer verfügte also bereits über einen ansehnlichen Baukasten von stilistischen Mitteln zum Erzählen von Bildgeschichten. Der Pointeneinsatz gelingt im Verlauf seiner Veröffentlichungen mit immer besseren Timing, im zuvor entstandenen „Die Geschichte des Monsieur Cryptogame“ sogar fast noch gelungener, und die darin gemachten Anspielungen, oft von sexueller Natur, werden durch das Jagen und Aufspießen von Schmetterlingen fast schon subtil. Diese wurde bereits passend durch den Namen des Protagonisten, dessen Bedeutung als im verborgenen blühende Pflanze, deren Vermehrung sich ohne von außen ersichtliche Aktivität abspielt, eingestimmt.
Erstaunlich, die erste Geschichte mal außen vor gelassen, wie lesbar dies alles noch auch fast zweihundert Jahre nach seiner Entstehung ist. Wegen comic-historischer Bedeutung zur Entwicklung der formalen Bedingungen des Mediums empfehlenswert.
Rodolphe Töpffer: Die Liebesabenteuer des Monsieur Vieux Bois, Avant, 280 Seiten , 39,95 Euro
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