Coronatagebuch, New York (10.): Frühlingserwachen mit Distanz
100000 Amerikaner starben in der Pandemie. Trump hat weiter keine Strategie. Und die New Yorker kehren vorsichtig in die Parks zurück
Klaus Brinkbäumer war zuletzt Chefredakteur des „Spiegel“ und arbeitet heute als Autor unter anderem für „Die Zeit“. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer. In seiner wöchentlichen Kolumne „Spiegelstrich“ verfasst er derzeit ein Coronavirus-Tagebuch mit kurzen Beobachtungen aus dem Alltag und Überlegungen zur Krise.
Die New Yorker drängen hinaus aus den engen Wohnungen. Es ist Frühling, und der Memorial Day eröffnet den Sommer, so war es stets. Im Madison Square Park sind Kreise auf den Rasen gesprüht worden, im sicheren Abstand voneinander, und in den Kreisen sitzen wir, reiben die Becher mit Desinfektionsmittel ein, essen das erste Eis.
– Die Republikaner halten Donald Trumps Wortgeschöpf „Obamagate“ im Gespräch. Zwar können auch sie nicht erklären, worin Obamas Verbrechen besteht. Ein Gate aber ist ein Tor, und die Welt auf der anderen Seite ist endlos. Politische Denunziation funktioniert über Imagination, ein Wunderland: Jedes Dementi weist doch in neue Richtungen einer allumfassenden Schuld.
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– 100 000 Tote. Die USA leugneten das Virus sechs Wochen lang. In Südkorea, wo es zeitgleich ankam, begannen sofort Tests, Quarantäne, Abstandhalten; dort sind es heute knapp 270 Tote. Die Modelle diverser Universitäten belegen: Wenn die US-Regierung 14 Tage früher reagiert hätte, wären 90 Prozent der Todesfälle zu verhindern gewesen. Überschrift der Woche: „If Trump had been in charge during World War II, this column would be in German“ („Washington Post“).
– Der fünfte Pandemie-Monat und weiterhin keine Strategie. In 26 von 50 amerikanischen Bundesstaaten steigen die Infektionsraten. In Frankfurt sind nach einem Gottesdienst über 100 Gläubige infiziert; und der amerikanische Präsident befiehlt den Gouverneuren die Öffnung aller Kirchen, obwohl er dies nicht befehlen darf. Die Evangelikalen sind seine Kernwählerschaft und halten Trump mehrheitlich für von Gott gesandt, auch wenn er zweifach geschieden ist und Pornostars hinterher Schweigegeld zahlte.
Vulgäre Demokratie
– In den USA können viele Menschen nicht lesen, sind „unwissend, verwundbar und empfänglich für Demagogen, die nur die Gefühle ansprechen“, so sagt es mir der Schriftsteller Paul Auster im Gespräch für „Die Zeit“. Der britische Philosoph Philip Kitcher hat den Begriff dafür: „vulgäre Demokratie“. https://www.zeit.de/2020/22/paul-auster-donald-trump-usa-demokratie
– Der Präsident sagt, im Verborgenen habe er eine Maske getragen, aber vor den Kameras nicht, denn er gönne es den Medien nicht, ihn mit Maske zu sehen. Es geht nicht um Gesundheit, auch nicht um die Klugheit, das Richtige zu tun, sondern um Stärke, und wenn der Feind sieht, dass ich schwach bin, hat der Feind gewonnen. https://www.youtube.com/watch?v=g84D_KflsME
Krieg gegen die Medien
– Dieser Krieg des Weißen Hauses gegen die Medien entstand zufällig, in drei Schritten. 1. Der Wahlkämpfer Trump reagierte mit dem Wort „Fake News“ auf Meldungen, die das Publikum nicht glauben sollte, und einmal nur, im Gespräch mit einer CBS-Reporterin, gab er die Taktik zu. 2. Der gewählte Präsident saß im Januar 2017, noch vor der Amtseinführung, mit seinem Strategen Stephen Bannon zusammen. Da Trump Reibung schätzt, schlug Bannon die Medien als Gegner sowie den Terminus „enemy of the people“ vor. Bannon meinte es als Anreiz, als Spiel. 3. Nach seiner Amtseinführung sagte der Präsident, die Menschenmenge sei die größte aller Zeiten gewesen. Die Medien nannten das „Lüge“, da die weite Fläche vor dem Kapitol halbleer gewesen war. Der Präsident verstand das Wort als Kriegserklärung, seine Präsidentschaft war 24 Stunden alt.https://www.youtube.com/watch?v=CyIZz4KE8dg
Abstand halten auf dem Boot
– Fortschritte, Forts.: die erste Segelverabredung mit C., wir planen exakt die Positionen, „social distancing“ auf dem Boot, zudem besondere Atemschutzmasken, die sich, vom Hudson durchnässt, nicht auf das Gesicht pressen wie Tücher beim Waterboarding. Dann der Regen, der uns noch nie gestört hat, aber mit dem Regen verschwindet der Wind, und wir bleiben an Land.
– Dies war die letzte Folge der ersten Staffel dieses Tagebuchs, kommende Woche wird es im Sinne der Kolumne um Sprache und Politik gehen. Ob es eine zweite Staffel geben wird, hängt ganz allein von New York ab.
Klaus Brinkbäumer war zuletzt Chefredakteur des „Spiegel“ und arbeitet heute als Autor unter anderem für „Die Zeit“.
Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter
Klaus Brinkbäumer