Interview mit Judith Kerr: „Früher schien die Koenigsallee riesig breit“
Die Schriftstellerin Judith Kerr über das Berlin ihrer Kindheit, den Seehund des Vaters – und ihren 90. Geburtstag am Freitag.
Frau Kerr, wie war das, als Sie nach dem Krieg das erste Mal nach Berlin zurückgekehrt sind?
Es war 1953. Mein zukünftiger Mann und ich waren durch Italien gereist und fuhren zum Abschluss nach Berlin. Meine Mutter arbeitete hier, wir wollten ihr mitteilen, dass wir heiraten werden.
Ein schöner Anlass. Hatten Sie trotzdem gemischte Gefühle?
Man sollte das vielleicht nicht sagen, aber es war ein Triumphgefühl. Ich habe mich nicht über die Trümmer gefreut, die waren schlimmer als in London, wo ich den Blitz erlebt habe. Aber ich dachte, Gott sei Dank existieren die Nazis nicht mehr. Man wusste damals noch nicht alles, aber von den Konzentrationslagern und Gasöfen schon. Jetzt war die Stadt aufgeteilt in Sektoren, die Angst vor den Russen ging um. Es war beklemmend, ich war glücklich, bald wieder zu Hause in England zu sein. Wenn ich heute in Berlin bin, fällt mir auf, wie sehr sich alles verändert hat. Als Kind kannte ich eigentlich nur unser Viertel im Grunewald, den Schulweg. Ganz selten fuhr ich mit meiner Mutter in die Stadt, zum Einkaufen. Mit unserem Kindermädchen Heimpi ging ich auf einen Markt in Halensee. Ich wusste nie, kauft sie mir heute eine Banane oder nicht?
Existiert noch das Haus in der Douglasstraße, in dem Sie aufgewachsen sind?
Ja, aber es sieht heute anders aus, man hat angebaut, es ist viel größer. Nur die Stufen zur Haustür sind die gleichen geblieben. Wenn ich im Grunewald bin, gehe ich am liebsten einfach spazieren. Einmal war ich zehn Tage mit meinem Mann Tom in Berlin und habe ihm die Orte meiner Kindheit gezeigt. Die Hügel, wo wir Schlitten gefahren sind. Die Koenigsallee, die früher so riesig breit erschien. Jetzt überquerte ich sie, ohne es zu merken.
Überlegen Sie manchmal, wie das Leben in Berlin gewesen wäre, wenn es die Nazis nie gegeben hätte?
Ach, darüber habe ich nie nachgedacht, auch früher nicht. In England haben mein Bruder und ich nur auf das geschaut, was vor uns liegt. Eine neue Sprache, eine neue Schule. Ich bin auf so viele Schulen gegangen, ich glaube, es waren elf. Das ist jedes Mal ein neuer Anfang. Unmöglich, an Deutschland zurückzudenken.
Wie haben Sie das Exil als Kind erlebt?
Ich hatte gute Eltern. Ich weiß heute, dass es für sie entsetzlich war, trotzdem erinnere ich mich nicht an viel Unsicherheit. Ich finde es ein bisschen ungerecht, dass ich ein so glückliches Leben hatte, während sie so hart kämpfen mussten.
Jetzt werden Sie 90 Jahre alt. Bleibt der Blick nach vorn gerichtet?
Nein, weil ich so alt werde, hat mein englischer Verleger ein Buch über mein Leben und meine Arbeit herausgebracht. Dafür musste ich etwas Autobiografisches schreiben. „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ und die anderen Romane sind zwar wahre Geschichten, aber ich habe manches ausgelassen oder dramatisiert. Ich fand zum Beispiel erst später heraus, wie sehr mein Vater im Exil kämpfen musste, um uns durchzubringen. Darüber sprach er nie. Im zweiten Band „Warten bis der Frieden kommt“ hatte ich es so dargestellt, dass er wunderbare Gedichte schrieb, aber meine Mutter die ganze Arbeit machte. So war es nicht. Sich dem zu stellen, war auch schmerzhaft.
Ihr Vater war unter anderem gezwungen, seine Bibliothek verkaufen.
Das muss das Schlimmste für ihn gewesen sein. Wir sind von Zürich nach Lugano gegangen, weil es dort wärmer war, wahrscheinlich auch billiger. Ich wurde krank, es war sehr ernst, es gab keine Antibiotika. Da saßen sie in Lugano mit einem todkranken Kind, konnten das Hotel und den Arzt nicht bezahlen. Mein Vater hat wohl einen Freund beim „Berliner Tageblatt“ dazu gebracht, auf den Speicher unseres Hauses zu gehen, wo die Möbel und die Bibliothek eingelagert waren, und eine Kiste mit Büchern zu verkaufen. Wahrscheinlich weit unter Wert. Bald darauf wurde aller Besitz konfisziert.
Hatten Sie je Angst vor Armut?
Ja. Ich weiß, wie abhängig es macht, arm zu sein. Ich brauche nicht viel Geld, aber ich möchte unabhängig sein. Damals haben uns viele Menschen geholfen, waren sehr gut zu uns. Aber es ist demütigend.
Werden Sie in England und Deutschland unterschiedlich wahrgenommen?
Sicher, die Kinder in England lesen in der Schule auch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, wenn sie wollen. Aber meine Bilderbücher werden dort viel mehr gelesen. „Ein Tiger kommt zum Tee“ oder die Geschichten von Kater Mog. Eigentlich bin ich ja Bilderbuchautorin, vor allem Zeichnerin. Das „Rosa Kaninchen“ habe ich nur geschrieben, weil mir die Geschichte eben passiert ist. Ich habe probiert, einen richtigen Roman zu schreiben, anderthalb Jahre lang, es war unmöglich. Aber ich bin die Tochter eines Schriftstellers, die Frau eines Schriftstellers und jetzt auch die Mutter eines Schriftstellers.
Als Ihr berühmter Tiger 40 Jahre alt wurde, war das in England eine größere Meldung als Ihr 85. Geburtstag …
40 Jahre für einen Tiger sind ja auch bemerkenswerter als 85 Jahre für einen Menschen, oder? Die Geschichte sollte ja gar kein Buch werden. Ich habe sie meiner kleinen Tochter erzählt, nachdem wir die Tiger im Zoo gesehen hatten. Tom war viel unterwegs damals, er drehte Filme mit Laurence Olivier. Tacy und ich haben uns furchtbar gelangweilt und wünschten uns manchmal, dass irgendwer zu Besuch kommt. Warum nicht ein Tiger?
In Berlin ist eine Grundschule nach Judith Kerr benannt
In Ihrem Buch „My Henry“ unternimmt eine Witwe mit ihrem verstorbenen Mann fantastische Reisen. Haben Sie damit den Tod Ihres Mannes verarbeitet?
Ja, das war für Tom. Aber es ging noch um etwas anderes. Als mein Mann starb, kamen auf einmal all diese alten Damen, um mir beizustehen. Es ist wie ein geheimer Klub, die Witwen helfen einander. Man sieht alte Damen ja meist nur im Bus sitzen und denkt nicht über sie nach. Ich wollte darüber schreiben, was in ihnen vorgeht.
Haben Ihre Kinder Ihre Talente geerbt?
Meine Tochter malt. Aber das hat sie von ihrem Onkel, dem Bruder meines Mannes, einem großen Bildhauer. Sie zeichnet wie er, nicht wie ich. Und mein Sohn gewinnt ja alle Preise in England. Er ist ein ganz anderer Schriftsteller als sein Vater, der Geschichtenerzähler.
Die „Rosa Kaninchen“-Trilogie erzählt auch vom Abnabelungsprozess zwischen Kindern und Eltern. Ist es Ihnen leicht gefallen, Ihre Kinder ziehen zu lassen?
Nein. Unser Sohn Matthew wohnte nach dem Studium in Oxford eine Zeit lang wieder bei uns, danach ging er auf eine große Reise. Wir brachten ihn und einen Freund zum Bahnhof, hinterher bin ich einkaufen gegangen und habe geweint. Zu Hause hat mich Tom getröstet, und ich wollte zu ihm sagen: „I’m all right now, I’m going upstairs to have a bath.“ Stattdessen sagte ich – es war sehr freudianisch: „I’m going upstairs to have a baby.“ (lacht)
Haben Sie den Kindern viel über den Großvater Alfred Kerr erzählt?
Vieles ist schwer für sie zu verstehen, weil sie nicht genug Deutsch sprechen. Mein Deutsch reicht auch nicht, um meinen Vater so zu lesen, dass ich erfasse, wie er mit der Sprache umgeht. Aber natürlich habe ich von ihm erzählt. Besonders mochten sie die Tiergeschichten. Mein Vater hatte ja einen Seehund, wussten Sie das?
Bitte erzählen Sie!
Er war in Frankreich, kurz nach dem Krieg. Mein Vater fuhr mit einem Fischer aufs Meer, der Seehunde schoss. Einmal tötete dieser Fischer versehentlich eine Seehund-Mutter und wollte auch das Junge erschießen, weil es allein nicht überleben könnte. Aber mein Vater nahm den Seehund mit. Er hat das Tier irgendwie auf den Zug gebracht, im Gepäckwagen, zu Hause wohnte es dann in der Badewanne. Leider wurde der Seehund irgendwann zu groß für die Wohnung, und der Zoo wollte ihn nicht nehmen. Also musste er doch getötet werden. Er wurde ausgestopft, ich habe als Kind immer auf ihm gesessen. Meine Mutter mochte ihn nicht. Ich glaube, der Seehund hatte Motten.
Was ist Ihre prägendste Erinnerung an den Vater?
(Überlegt lange) Es sind viele. Einmal, in Paris, kam ich aus der Schule und sah ihn zufällig auf der Straße. Er sprach mit sich selbst. Wahrscheinlich haderte er mit etwas. Die Franzosen haben ihm damals allerhand versprochen, aber es kam nie dazu. Er muss traurig und ärgerlich gewesen sein. Aber dann sah er mich und sein Gesicht hellte sich auf, er strahlte.
Die Alfred-Kerr-Stiftung ist nach Ihrem Vater benannt, nach Ihnen eine Berliner Grundschule. Halten Sie Kontakt?
Ich bin nicht sehr gut darin, Briefe zu beantworten. Aber der Sohn von Verwandten meines Mannes geht auf diese europäische Schule. Er hat mir ein Foto geschickt, darauf trägt er ein T-Shirt mit dem Schriftzug ‚Judith-Kerr-Schule’. Sehr komisch, als es damals um den Namen ging, schrieb man mir, es gebe leider ein kleines Hindernis. In Berlin dürften Schulen eigentlich nur nach verstorbenen Menschen benannt werden. Mein Mann sagte nur: Das ist zu viel verlangt! (lacht)
Was wünschen Sie der jungen Generation?
Meinen Kindern habe ich gewünscht, dass sie eine Arbeit finden, die sie glücklich macht. Mein Vater war nicht gläubig, aber das Ethos der Juden hat er uns vermittelt. Dass man ehrlich und anständig sein soll, nicht wahr? Dafür muss man nicht jüdisch sein. Tom ist jetzt beinahe sieben Jahre tot, und ich arbeite die ganze Zeit. Dann kann ich es aushalten.
In einem seiner letzten Briefe an Sie schrieb Ihr Vater: „Du musst glücklich werden.“ Ist das auch eine Bürde?
Ich weiß es nicht. Ich hab’s einfach getan.
Judith Kerr, am 14. Juni 1923 in Berlin geboren, wurde mit ihrem Jugendbuch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (1971) und den zwei Folgebänden „Warten bis der Frieden kommt“ (1975) und „Eine Art Familientreffen“ (1979) bekannt. Die Tochter des Theaterkritikers Alfred Kerr erzählt darin von der Emigration ihrer jüdischen Familie aus dem nationalsozialistischen Deutschland und dem Exil in der Schweiz, in Paris und England. Judith Kerr lebt seit vielen Jahren als Buchillustratorin, Zeichnerin und Schriftstellerin in London, wo sie nach dem Krieg unter anderem für die BBC arbeitete und ihr berühmtes Kinderbuch „Ein Tiger kommt zum Tee“ (1968) sowie 17 Bände mit Geschichten vom Kater Mog herausbrachte. Sie war seit 1954 mit dem Schriftsteller und BBC-Autor Thomas Nigel Kneale verheiratet, der 2006 starb. Ihre Tochter Tacy ist Malerin, der Sohn Matthew ebenfalls Schriftsteller. Das Gespräch führte Patrick Wildermann.
Patrick Wildermann
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