ECM: Frische Luft für heiße Hirne
Das Hören neu entdecken: Eine Ausstellung im Münchner Haus der Kunst feiert Manfred Eichers legendäres Jazzlabel ECM.
Irgendwo in Italien, eine kleine Bar, nichts Besonderes: im Hintergrund Werbung für die Lotterie Nazionali, im Vordergrund ein Tisch mit karierter Decke und Tassen drauf, drumherum sitzen fünf Männer, lesen Zeitung und unterhalten sich. Später werden sie ins Auto steigen und nach Ludwigsburg fahren, um dort im Tonstudio Bauer eines von vielen legendären Alben einzuspielen: Lester Bowie, Joseph Jarman, Roscoe Mitchell, Malachi Favors Maghostus und Famoudou Don Moye – das Art Ensemble of Chicago. Die Platte wird – das Cover verspricht nicht zu viel – „Nice Guys“ heißen, und wenn man sie mal wieder auflegt, ist es immer noch ein wenig wie 1978 und auch danach bei jedem Hören: unwillkürlich entsteht das Gefühl, es könne sich ohne Gefahr für Leib und Leben die eigene Schädeldecke öffnen – und das Hirn bekäme frische Luft.
Andererseits musste eine alte Frau dafür lange stricken. Manfred Eicher sagt, er sehe sich manchmal so, wenn er auf über vier Jahrzehnte seines Labels ECM (Edition of Contemporary Music) zurückschaue: „wie eine Frau vor dem Feuer, die strickt“, und irgendwie schlössen zwanglos die Muster an, „wenn man’s einmal auf der Nadel hat“. Und die Wolle? „Wird nicht weniger“, antwortet er. Er sieht nicht aus wie ein bald Siebzigjähriger: der ewige Schnurrbart, die halblangen Haare, jetzt nicht mehr gescheitelt, sonst alles wie früher und immer, nur ein bisschen grauer.
Manfred Eicher sitzt im Münchner Haus der Kunst neben dem Direktor Okwui Enwezor, der die Ausstellung über ECM kuratiert hat (zusammen mit dem Berliner Markus Müller), und man merkt gleich, dass Enwezor im Grunde genommen gar nicht der Veranstalter dieser Schau über ECM ist, sondern einfach nur der größte denkbare Fan von Eicher. Wie Fans so sind, hat Enwezor ihm deswegen auch eine Art Hausaltar gebaut. Er steht im ersten Stock und besteht aus lauter bunt beschrifteten Pappschachteln, in denen sich die Mastertapes zahlreicher ECM- Produktionen verstecken: Carla Bley, Pat Metheny, Egberto Gismonti, Terje Rypdal, Evan Parker, Jack de Johnette. Die Pappschachteln reichen bis an die Decke und sind mit einem Eisenband gesichert, damit kein Besucher auf dumme Gedanken kommt.
Als die Sache mit dem Band erörtert wird, sagt Eicher: „Sie könnten damit eh nichts anfangen.“ Man denkt unweigerlich – um eine der Ikonen von ECM zu nennen – an Keith Jarretts „Köln Concert“ und daran, was Eicher daraus gemacht hat. Jarrett und er fanden am 24. Januar 1975 im Kölner Opernhaus einen leicht verstimmten Flügel vor. Und Jarrett war verliebt, aber sonst nicht besonders gut drauf. Eicher beschloss, die Sache einfach mal wirken zu lassen. „Manchmal“, sagt er, „muss man hören können, ohne zu wissen, was es ist.“ Später verschaffte er dem Klang von damals, der für viele Leute ein Ewigkeitsklang wurde, einen Raum, den er eigentlich nicht gehabt hatte. Das Doppelalbum verkaufte sich bis heute dreieinhalb Millionen Mal, für eine frei improvisierte Jazzaufnahme eine Sensation.
Keith Jarrett ließ sich Zeit, sein Labelchef war geduldig.
Eicher sagt, er reagiere intuitiv, ohne Business- und Masterplan. „Wenn Geld auf der Bank war, haben wir weitergemacht, wenn keines da war, war Pause.“ Das ist schön erzählt, aber auch nur die halbe Wahrheit, weil sich Intervalle nach 1975 nur noch selten ergeben haben. Jarretts Konzert ist immer noch die erfolgreichste Soloklavierplatte der Welt. Was konnte danach noch kommen? Klassische Rockproduzenten oder Verkäufer von Orchestermusik wären nervös geworden. Eicher nicht. Er ließ den Dingen die Zeit, die die Dinge im Leben eben manchmal brauchen, aber fast nie bekommen. Jarrett gefielen die Soloimprovisationsabende. Er dehnte sie aus, bis die Sun Bear Concerts beisammen waren – auf zehn Platten. Später ging er ganz andere Wege. Zurück zu Mozart. Zurück zum Real Book und zu Standards. Und als er fand, dass es nach einer schweren Krankheit besser sei, sich erst mal selber mit einem Kassettenrekorder aufzunehmen bei den ersten tastenden Versuchen, war auch das in Ordnung.
Nicht von ungefähr beginnt der Kurator Enwezor seine Huldigung und „kulturelle Archäologie“ der ECM-Geschichte, mit Manfred Eicher, dem ausgebildeten Kontrabassisten und ehemaligen Mitglied der Berliner Philharmoniker, wie er hinter seinem Instrument den wunderbaren Attacken des Altsaxofonisten Marion Brown zu begegnen versucht. Es ist ein Film von Theodor Kotulla, den dieser für das Kulturprogramm der Olympischen Spiele 1972 gedreht hat. Er heißt „See the Music“, also so, wie ein Album von ECM auch hätte heißen können zu dieser Zeit. Dann sieht man, wie die Musiker zusammensitzen und Leo Smith von seinen Göttern spricht. Ellington sei sein Shakespeare, Picasso seine „Messlatte“, aber er habe nie daran gedacht, sich schriftlich auszudrücken, nur durch Musik.
Eicher hatte zu diesem Zeitpunkt bereits gehandelt. Programmatisch mit Martin Luther Kings Ruf „Free at Last“ betitelt, war 1969 ein erstes ECM-Album von Mal Waldron erschienen, das prompt die Tür in die weite Welt öffnete. Von Eicher lernen hieß von da an: neu hören zu lernen. Viele durchkommerzialisierte amerikanische Labels hatten das bereits länger nicht mehr praktiziert. Von Ausnahmen abgesehen fanden die wirklich wichtigen Aufnahmen von US-Jazz- und Avantgardemusikern wie dem Art Ensemble of Chicago, Lester Bowie, John Abercrombie, Oregon oder Steve Reich in den Siebzigern und Achtzigern in Ludwigsburg oder München statt.
Weil man aber Musik nur schlecht ausstellen kann, inszeniert Enwezor im Haus der Kunst eine Form von Pilgergang auf weichem Teppich. So können die Besucher von Jahr zu Jahr fortschreitend noch einmal nachvollziehen, dass die ECM-Welt immer diversifizierter und welt- und musikhistorisch umspannender geworden ist – und bestimmt nicht einfacher. Präsentiert wird eine Überfülle von Fotos, Skripten und Noten – und der nächste Kopfhörer ist nie weit entfernt.
Großen Raum nehmen die Cover ein, ursprünglich entworfen und fotografiert meist von Barbara Wojirsch (die Eicher von der Stuttgarter Kunstakademie kannte) und Roberto Masotti. Das Artwork korrespondiert mit der Musik im Kern. Es biedert sich nicht an, sondern bewahrt einen inneren Stolz und ein Geheimnis, selbst wenn – etwa bei dem Album „Nice Guys“ des Art Ensemble of Chicago – die Perforation des damals noch einzulegenden Films zu sehen ist. „ECM – Eine kulturelle Archäologie“ ist eine an jedem Punkt bewusstseinserweiternde Ausstellung. Man lernt tatsächlich, mit den Ohren zu sehen.
Bis 10. Februar im Münchner Haus der Kunst. Der Katalog kostet 49,95 €. Zum Rahmenprogramm gehören neben Konzerten viele Filme mit Musik von ECM.
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