Literatur: Fremd sind wir eingezogen
Unangreifbare Menschlichkeit: Marie NDiayes Roman "Drei starke Frauen" - drei Erzählungen.
„Tonka“ nannte Robert Musil die intensivste und beklemmendste der drei Erzählungen seines Buches „Drei Frauen“. Der Himmel, heißt es darin, „war gegen Tonka, die die gewöhnliche Sprache nicht sprach, sondern eine Sprache des Ganzen“. Die französische Schriftstellerin Marie NDiaye erzählt in ihrem neuen, mit dem Prix Goncourt und vielen Vorschusslorbeeren bedachten Roman nicht einfach nur von Frauen, sondern von „Drei starken Frauen“, bei denen es sich dennoch um zutiefst unverstandene Geschöpfe handelt. Ob „in der Dämmerung eines blassen Regenzeitmorgens“ in Afrika oder unter der Sonne Frankreichs: Die Rechtsanwältin Norah, die Französischlehrerin Fanta und die junge Witwe Khady Demba kämpfen jeweils gegen ihr ungünstiges Schicksal an, das ihnen Männer eingebrockt haben. Dabei geht es Khady, einer Cousine Fantas, am schlechtesten – vergleichbar Musils Tonka, die bei der Geburt ihres vom Liebhaber verleugneten Kindes den Tod findet.
Die kinderlose Khady – in Afrika ein furchtbarer Makel – wird nach dem frühen Tod ihres Mannes von dessen Familie verstoßen. Sie soll als illegaler Flüchtling nach Europa aufbrechen und von dort aus Geld schicken. Erst dann dürfe sie in den Senegal zurückkehren, schärft ihr die bilderbuchböse Schwiegermutter ein. Statt in dem „Block von Schweigen und Abwehr“ zu verharren, der sie umgibt, macht sich die Verstoßene wie so viele notleidende Afrikaner auf den gefährlichen Weg zu dem „Zaun, von dem sie alle redeten“. Von allen guten Geistern verlassen, von einem jungen Mann, den sie auf der Reise kennenlernte, nach Strich und Faden betrogen, findet Khady Demba an der Grenze zum vermeintlichen Wohlstand den Tod – und die Autorin große Worte: „Doch ihr Herz schlug langsam, friedlich, und auch sie fühlte sich so, langsam, friedlich, unerreichbar, im Schutz ihrer unangreifbaren Menschlichkeit.“
Würde eine Schriftstellerin ohne „Migrationshintergrund“ so schreiben, läge der Kitsch-Verdacht nahe. Doch bei Marie NDiaye, die die Bildmächtigkeit ihrer ohnehin schon expressiven Sprache mit allerhand „Oh“-Ausrufen noch steigert („Oh, sie hatte große Angst“), kommt eine solche Kritik kaum auf. Das mag an einer postkolonialen Hemmung liegen oder an der exotisch-auffälligen Erscheinung der Wahlberlinerin. Marie NDiaye gehört zu den eigenwilligsten Autorinnen Frankreichs.
2007 zog sie mit ihrer Familie nach Berlin, da sie die Stimmung seit der Wahl Sarkozys als „trübsinnig und enervierend“ empfand. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den renommierten Prix Femina für den Roman „Rosie Carpe“. Das Attribut „kafkaesk“ für ihren unterkühlten Stil wertet sie als Kompliment. Die Tochter einer Französin und eines Senegalesen wurde 1967 in Pithiviers bei Orléans geboren. Ihren Vater lernte sie erst mit elf kennen. Sechs Jahre später wurde bei einem Wettbewerb ihr schriftstellerisches Talent entdeckt. Das Motiv der Fremdheit hat für ihr Werk zentrale Bedeutung: „Ich lebte als Mischlingskind zu einer Zeit in Frankreich, als das noch recht selten war. Gleichzeitig war ich durch und durch Französin. Ich hatte wohl schon sehr früh das Gefühl einer gewissen Differenz gegenüber meinem Land und meiner Sprache, ja meiner Kultur. Darunter habe ich aber nie gelitten, es war vielmehr eine Konstante.“
In Frankreich erscheinen Marie NDiayes Bücher im berühmten Verlag „Editions de Minuit“, die dem Nouveau Roman verpflichtet ist. Doch sie zählt eher Joyce Carol Oates zu ihren Vorbildern, in deren psychologisch dichten Texten unzählige amerikanische Mädchen Gewalt erfuhren. Häufig thematisiert Marie NDiaye, eine mistress of suspense, Rituale der Ausschließung, die sich auf höchst beunruhigende, ja schockierende Weise körperlich manifestieren.
Diese Kunst erreichte in ihrem achten Roman „Mon cœur à l'étroit“ ihren unheimlichen Gipfel. Die deutsche Übersetzung „Mein Herz in der Enge“ – ebenfalls von Claudia Kalscheuer – erschien 2008.
„Durst nach Unrecht“ wurde Marie NDiaye von der französischen Presse bescheinigt. „Drei starke Frauen“ bezeichnet sie als ihr „hellstes Buch“, was angesichts des düsteren Endes von Khadi Demba erstaunt. Oft wandeln sich die vermeintlichen Opfer ihrer Romane unmerklich, je mehr sie von ihrem undurchsichtigen Vorleben preisgeben. Dabei schwingt stets ein Hauch von afrikanischem Ahnenkult mit, eine reizvolle Mischung aus schärfstem Realismus und Übersinnlichem. Fanta, die Frau des zweiten Teils, wird aus der Perspektive ihres weißen Mannes geschildert, eines egoistischen Phlegmatikers, dessen Vater offenbar ein Mörder war.
Als das Lehrerpaar auf Betreiben des Mannes in die französische Provinz zurückkehrt, droht Fanta, die Afrikanerin, wie ein exotisches Gewächs vor Langeweile einzugehen. Doch der Eindruck täuscht. Schließlich ist da noch die selbstbewusste Anwältin Norah, Heldin des ersten Romanteils. Ihr verhasster Vater hat sie nach Dakar bestellt – sie soll ihren Halbbruder verteidigen, der unter Verdacht steht, seine Stiefmutter ermordet zu haben. Marie NDiaye ist eine Meisterin der Schilderung körperlicher Missempfindungen. So will Norah, auf die in Frankreich ihre kleine Tochter wartet, „dem Durcheinander ein Ende setzen, dessen beängstigende Inkarnation ihr Vater ihr Leben lang gewesen war, ihr Vater mit den unter dem Hemd zusammengefalteten Flügeln, der heute alt, verbraucht, massig und sonderbar durch den finsteren Flur ging.“ Es bleibt bei dieser in extenso ausgemalten Aversion. Sie führt gedanklich nicht weiter, sondern verharrt allzu oft in Stereotypen.
Jenseits dieser Schicksale dreier „deplatzierter“ Frauen stellt Marie Ndiaye die Frage nach der Conditio humana schlechthin. „Was den Menschen in ihrem Leben im allgemeinen die größten Probleme bereitet“, sagte die Autorin in einem Interview, „sind ihre nächsten Angehörigen, ihre Kinder, Eltern, Ehemänner oder -frauen“. In ihren drei moralischen Erzählungen vermischt sie diese familiären Urkonflikte geschickt mit dem gegenwärtigen Verhältnis von Erster und Dritter Welt. Das ist vielleicht kein Geniestreich, aber höchst respektabel.
Marie NDiaye:
Drei starke Frauen.
Roman. Aus dem
Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2010.
342 Seiten, 22,90 €.
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