Tanz im August: Fremd im eigenen Leben
Finale beim Festival Tanz im August: Das Wuppertaler Tanztheater badet in der Volksbühne mit „Neues Stück II“ in Melancholie.
Die Toten stehen wieder auf. Das ist nicht das einzige Wunder im „Neuen Stück II“, mit dem das Tanztheater Wuppertal den Tanz im August beschließt. Der norwegische Choreograf und Regisseur Alan Lucien Øyen hat das erste Mal ein Kreation für das berühmte Wuppertaler Ensemble entwickelt, das neun Jahre nach dem Tod von Pina Bausch auf der Suche nach einer neuen Identität ist. Zuletzt war es durch einen monatelangen Richtungsstreit in die Schlagzeilen gekommen. Die neue Intendantin Adolphe Binder war nach nur einem Jahr auf Betreiben des Geschäftsführers geschasst worden. Sie hat gegen die fristlose Kündigung geklagt, am 4. September wird es zu einer Güteverhandlung kommen. Die Spannungen waren zu greifen, denn auch Binder zeigte sich in der Volksbühne – und aus Wuppertal waren einige der Strippenzieher angereist. 16 Tänzer in elegantem Retro-Look versammeln sich anfangs zu einem anmutigen Gruppenbild. Sie sind anbetungswürdig, und das wissen sie auch.
Øyen hat eine Dreieinhalb-Stunden-Elegie zu sanft vor sich hinplätschernder Klaviermusik und nostalgischen Schlagern entworfen. Er umkreist die großen Themen: Liebe, Tod, Trauer und Erinnerung. Der Abend ist ein Defilee der Verlassenen, Lebensmüden, Mörder und Selbstmörder – und irgendwann hört man auf zu zählen, wie viele Leichen die Wuppertaler im Keller haben. Denn das Stück badet geradezu in Melancholie, mit seiner sanften Traurigkeit und seinem milden Fatalismus hat es bisweilen etwas Einlullendes. Aufwühlend sind diese Minidramen nicht, denn Øyen geht nie bis an die Schmerzgrenze. Oft lässt er die Szenen ins Komisch-Absurde oder gepflegte Albernheit kippen. Sie kommen einem doch sehr bekannt vor: die reifen Tragödinnen, die nie auf ihren Lippenstift verzichten würden, und die Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Witzig ist der Auftritt von Tsai-Chin Yu als Drama-Queen Tsai-Chin Yu, sie verlangt nach Wasser, Zigaretten, Kreide, bevor sie endgültig kollabiert. Rainer Behr kommt kaum hinterher, die Wünsche der leidenden Frau zu erfüllen. Die Tänzer müssen hier mehr Text sprechen, manche kommen darstellerisch schon mal an ihre Grenzen. Sie greifen öfters auf ihr bewährtes Repertoire aus Exaltationen zurück, wie auf ein bekanntes Bewegungsarsenal.
Für dem Choreografen ist Erinnerung nur Fiktion
Øyen hält das Geschehen in der Schwebe, lässt es immer wieder ins Mysteriöse abdriften. Für den Choreografen, stark vom Kino geprägt, ist Erinnerung nur eine Fiktion. Die Emotionen sind konstruiert. Daher betont Øyen die Künstlichkeit der Situation, was aber auch emotionale Distanz herstellt. Das Bühnenbild von Alex Eales ist aber genial. Es erinnert mit seinen abblätternden Tapeten, Tütenlämpchen und Plüschsesseln an ein Filmset der 50er Jahre. Die Figuren fühlen sich fremd im eigenen Leben, agieren oft wie Darsteller in einem Film, dessen Skript sie nicht kennen. Julie Shannahan, die wie eine Kinodiva aus den 40ern aussieht, wird hergerichtet für einen Dreh. Sie nimmt Platz in einem Sessel, hält sich einen Revolver an die Schläfe. Wenn ein Knall ertönt, sinkt sie wie leblos zusammen. Sofort stürzt sich das ganze Team auf die Bühne, um die Requisiten eilig wegzuräumen. Auch der gesellschaftliche Umgang mit dem Sterben ist Thema. Nicht nur Andrey Berezin als Bestatter mangelt es an Pietät, mit brutaler Routine werden die Toten entsorgt und die Lebenden einem Verhör unterzogen.
Die Tanzsoli mit den Schwüngen und schlängelnden Armen sind alle wunderschön anzusehen, doch sie erzählen kaum etwas von den inneren Erschütterungen. Nur ein ruppiges Männerduo lässt inneren Aufruhr spüren. Jonathan Frederickson umgarnt Douglas Letheren, als wolle er ihn verführen. Der stößt ihn von sich, kann ihn doch nicht loslassen, schleudert ihn herum, fängt ihn wieder auf – und konfrontiert ihn brutal mit der Wahrheit über den Selbstmord seines Vaters. Es ist fast die einzige Szene, wo Erinnerung etwas Quälendes hat. Ansonsten werden hier die Trauerrituale und Abschiedsarien geschmackvoll und dekorativ in Szene gesetzt. Ein letztes Adieu im Schneegeriesel. Dann senkt sich der eiserne Vorhang. Nur vorn an der Rampe bleibt ein leerer Stuhl stehen. Für Pina?
Auch wenn das Gastspiel des Wuppertaler Tanztheaters mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurde, war es doch ein Festival der Extraklasse. Da es für die 30. Ausgabe mehr Geld gab, konnte Virve Sutinen auch größere Ensembles einladen. Und was für welche! Die Hochleistungstänzer von Wayne McGregor, die multikulturelle Truppe aus Südafrika bei Constanza Macras, die brasilianischen B-Boys bei Bruno Beltrão wurden vom Publikum gefeiert. Die Stücke mit politischem Anspruch, etwa Nora Chipaumires „portrait of myself as my father“ oder Robyn Orlins „Oh Louis ...“ konnten nicht überzeugen. Doch es gab viel zu entdecken. Tanz im August war vor allem eine Feier der Vielfalt.
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