Internationales Literaturfestival Berlin: Freiheit kommt auf vielen Wegen
Von J.M.Coetzee bis Salman Rushdie, von Taiye Selasi bis Moshin Hamid und Per Olov Enquist: Am Mittwoch beginnt das Internationale Literaturfestival Berlin mit rund 160 Autoren aus 50 Ländern.
Wie es mit dem guten alten Europa weitergeht, steht zumindest demografisch einigermaßen fest. Die 700 bis 800 Millionen Menschen, die es im Moment bewohnen, werden spätestens zur Mitte des Jahrtausends spürbar dezimiert sein – mit Chemnitz als der statistisch eindeutig ausgemachten Rentner-Hauptstadt des Kontinents. Dafür werden zwei Drittel der neun Milliarden starken Weltbevölkerung aus Asiaten bestehen.
Damit dürfte das Ende der kulturellen Hegemonie, die sich Europa zuletzt vielleicht noch einbilden konnte, besiegelt sein. Muss man nicht nur die Zeichen lesen, um sich die Zukunft auszumalen? Griechenland abgerissen und als Theme Park vor den Toren von Las Vegas neu aufgebaut. Frankreich ein einziges Museum. Großbritannien ein Armenhaus. Ungarn, weil politisch berechenbar, als Sonderwirtschaftszone an China verkauft. Bulgarien ein einig Mafialand mit Serbien als Protektorat. Italien eine von Indern geführte Schönheitsklinik. Und Deutschland ein schnuckeliges internationales Konferenzzentrum, dessen Hauptstadt, wenn das Schloss erst einmal steht, Heidelberg und Rothenburg ob der Tauber den Rang abgelaufen hat.
Man mag sich also fragen, ob es schon Nostalgie war, die das Internationale Literaturfestival Berlin bewog, seine Gäste für den Katalog um „Postcards to Europe“ als sehnsuchtsvollen „place to be“ zu bitten. Wahrscheinlich muss man es dabei mit dem Philosophen Jacques Derrida halten, für den die Postkarte buchstäblich eine Post-Karte war – nämlich etwas, das grundsätzlich zu spät kommt und für dessen Botschaft der Absender nicht garantieren kann.
„Besonders für uns, Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle, Demokraten aus der Türkei“, schreibt etwa die Romanautorin Oya Badar, „bedeutet Europa nicht nur Europa. Es war – und ist noch immer – eine Kultur, eine Lebensart, ein Freiheitsgefühl.“ Derzeit sei es allerdings auch „eine Utopie“. Die Halbägypterin Shereen El Feki, die ein aufsehenerregendes Buch über Sexualität in der arabischen Welt geschrieben hat, notiert, dass die sexuelle Revolution für Europa nicht als Einheitsgröße zu haben gewesen sei: „Die Freiheit kommt auf vielen Wegen.“
Der Blick nach innen und der Blick nach außen, den das Literaturfestival in den kommenden zwölf Tagen versucht – sie lassen sich nicht voneinander trennen. Schon wenn am Mittwoch Taiye Selasi („Diese Dinge geschehen nicht einfach so“), die in London geborene und in Rom lebende Tochter einer nigerianisch-schottischen Kinderärztin und eines aus Ghana stammenden Chirurgen die Eröffnungsrede (Haus der Berliner Festspiele, 18 Uhr) über die Nichtexistenz der afrikanischen Literatur hält, könnte etwas von einem Amalgam aufscheinen, das weder auf einen falschen Exotismus stiert noch sich einem jede kulturelle Differenz leugnenden One-World-Rausch hingibt.
Das diesjährige Programm stellt – überwiegend auf den Bühnen des Hauses der Berliner Festspiele – rund 160 Autoren aus fast 50 Ländern vor, darunter den südafrikanischen Nobelpreisträger J.M. Coetzee, den britisch-indischen Erzähler Salman Rushdie, den Pakistaner Mohsin Hamid, den Schweden Per Olov Enquist, den Nigerianer Helon Habila oder den Ägypter Chalid Al-Chamissi.
Neben einem umfangreichen Kinder- und Jugendprogramm zeichnet der Schwerpunkt „Weltweisheit – Kulturen des Alterns“ das mit 13 Jahren noch immer junge Festival besonders aus. Bei freiem Eintritt stellen zehn Schriftsteller und Journalisten aus aller Welt in 25 Veranstaltungen ihre Erfahrungen mit dem demografischen Wandel vor. Gisela Dachs spricht über das Altern in Israel, das Land mit der weltweit höchsten Lebenserwartung für Männer. Dacia Maraini beschäftigt sich mit dem Aufbegehren im Alter, Martin Winckler mit Sterbehilfe und Nancy Morejón mit afrokubanischen Perspektiven.
Mehr unter www.literaturfestival.com - und in der gedruckten Ausgabe des Tagesspiegels am Dienstag, 3. 9., in der es exklusiv einen Ausschnitt aus dem Briefwechsel von J. M. Coetzee und Paul Auster sowie zwei Gedichte des libyschen Lyrikers Ashur Etwebi gibt.
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