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Brauchen wir eine konservative Revolution? Bedeutet "Ehe für alle" nicht auch, dass die traditionelle Zweier-Partnerschaft ein Erfolgsmodell ist?
© Getty Images/iStockphoto

Liberalismus-Debatte: Freiheit ist anstrengend

Verfall der Werte? Individualisierung des Glücks? Ein Essay zur Debatte um Identitätspolitik und die Kritik von Dobrindt und Gabriel am postmodernen Liberalismus.

Feinde zu haben, kann eine Auszeichnung sein. Wenn sich aber Freund und Feind zum Angriff verbünden, wird es ernst. So geht es dem postmodernen Liberalismus gerade. Die Angriffe von außen, die revanchistischen Attacken der neuen Rechten, der neuen Konservativen und der Populisten auf die freiheitliche, plurale Gesellschaft, werden begleitet von Selbstzweifeln und Autoaggression. In Amerika und Frankreich wird die Debatte schon länger in der breiteren Öffentlichkeit geführt. Neuerdings lässt sich das Phänomen des Zangenangriffs auch in Deutschland beobachten.

Kürzlich sind zwei Gastbeiträge von deutschen Politikern erschienen, die geradezu exemplarisch dafür stehen. Da ist zum einen der „Welt“-Gastbeitrag von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Dessen Kritik zielt auf eine Gesellschaft, die sich aus seiner Sicht zu viele Freiheiten in ihrer Werteordnung und zu wenige in ökonomischer Hinsicht leistet. Der CSU-Politiker wendet sich gegen „linke Ideologien, sozialdemokratischen Etatismus und grünen Verbotismus“ in Deutschland. Auch 50 Jahre nach ’68 würden linke Ideologien vorherrschen, weil „Schlüsselpositionen in Kunst, Kultur, Medien und Politik“ in der Hand elitärer „Volkserzieher“ seien.

Dobrindt konstatiert, in Wahrheit gebe es eine bürgerliche Mehrheit, deren Meinungen und Wertvorstellungen missachtet würden. Den Pluralismus der 68er und ihrer Erben hält er für heuchlerisch: Ihr „Kampf um Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und Toleranz gilt allen, nur ihnen nicht.“ Er fordert eine „konservative Revolution der Bürger“ und entwirft einen Gegenkosmos aus christlich-abendländischer Leitkultur, Betonung der klassischen Familie sowie Heimat- und Vaterlandsverbundenheit.

Bereits kurz vor Weihnachten erschien im „Spiegel“ ein Beitrag von Außenminister Sigmar Gabriel, der aus anderer Perspektive Kritik am postmodernen Liberalismus äußert. Auch der Ex-SPD-Chef diagnostiziert fundamentale gesellschaftliche Zerfallsprozesse: Wenig sei übrig von der solidarischen Gesellschaft. Individualisierte Lebensvorstellungen seien prägender als früher. Gabriel kritisiert ein Übermaß an Postmoderne mit ihrem Versprechen von Individualität, Vielfalt, Freiheit und Wohlstand und fordert eine neue Fokussierung der Politik auf das Soziale.

Beide Texte sind Ausdruck eines tiefen Unbehagens mit dem postmodernen Liberalismus. Im Zentrum steht die Kritik an der Dekonstruktion festgefügter Wertesysteme.

Michel Foucault, Judith Butler, Jacques Lacan und andere Vordenker der Postmoderne widmeten ihre Schriften der Analyse bestehender Diskurse. Ihr Ziel war es, aufzuzeigen, dass die Regeln, die diese Diskurse bestimmen, nicht naturgegeben sind, sondern historisch bedingt und dass sie verändert werden können; dass etwa auch das biologische Geschlecht oder das Begriffspaar „gesund – krank“ auf menschlichen Definitionen beruht, ebenso wie die Hierarchien, die darauf aufbauen.

Was daraus folgte, werten Liberale als Fortschritt. Kritiker hingegen beschreiben die Entwicklung als eine Bewegung, die den Vorschlaghammer an eine Werteordnung angesetzt hat, ohne aus den Trümmern ein neues, stabiles Gebäude zu errichten. Sie unterstellen eine Obsession mit Vielfalt, einen Totalitarismus der Toleranz. „Postmoderne Beliebigkeit“ ist ihr Schlagwort.

In den USA läuft die Debatte schon etwas länger, und sie verläuft ähnlich. Mit Steve Bannon ist die Gleichsetzung von Postmoderne und Nihilismus Regierungsideologie geworden. Für die „sozialdemokratische Variante“ steht in den USA exemplarisch der Publizist Mark Lilla, Professor der Geisteswissenschaft an der Columbia-Universität. Er schrieb kurz nach der Wahl von Donald Trump in der „New York Times“: „Der amerikanische Liberalismus ist in den vergangenen Jahren in eine Art moralische Panik über die Rassenfrage, die Geschlechterfrage, die sexuelle Identität abgeglitten“, Der „Identitätsliberalismus“ müsse ein Ende finden, so Lilla. Das sei die zentrale Lehre aus der Niederlage von Hillary Clinton, die im Wahlkampf die weiße Arbeiterklasse vernachlässigt habe. In Frankreich sind es der Front National und Intellektuelle wie Michel Houellebecq, die die Kritik tragen. Houellebecq beschrieb in „Die Unterwerfung“ eine orientierungslose Gesellschaft, in deren Leere sich ein anderes Wertesystem ausbreitet, der Islam.

Erstaunlich parallele Entwicklungen: Sie sind Zeichen einer universellen Verunsicherung und konfrontieren den postmodernen Liberalismus mit unbequemen Wahrheiten. So steckt in der sozialdemokratischen Kritik die Erkenntnis, dass bestimmte politische Themen vernachlässigt wurden. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist ein begrenztes Gut, sie entscheidet darüber, welche politischen Projekte priorisiert werden. Projekte der Identitätspolitik wurden in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht gerade priorisiert. Das große Projekt der SPD war der Mindestlohn. Das große Projekt der CSU waren Migrationskontrolle und Sicherheitsgesetzgebung.

In der wertkonservativen Kritik steckt wiederum eine emotionale Wahrheit – und sie wiegt fast schwerer: Freiheit ist anstrengend. Der Wertekosmos der Vor68er-Zeit grenzte aus und beschnitt Rechte. Er bot aber auch ein Koordinatensystem mit einem klar definierten Oben und Unten, Innen und Außen. Für das Verschwinden dieser Koordinaten sind in den vergangenen Jahren etliche mehr oder weniger treffende Metaphern gefunden worden. Sozialdemokraten beschreiben es als Verlust klassenübergreifender Solidarität, Konservative als Verlust der Wertegemeinschaft. Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht in seinem aktuellen Buch von der „Gesellschaft der Singularitäten“. Er meint eine Gesellschaft, in der prinzipiell allem ein kultureller Wert zugeschrieben werden kann – und sei es ein Smartphone.

Der schweizerisch-israelische Psychoanalytiker Carlo Strenger beschreibt diese Individualisierung der Glücks- und Sinnsuche als große Überforderung des westlichen Menschen. Niemand kann mehr ein Sinn-Monopol beanspruchen, niemand wird in einen Sinn-Kosmos hineingeboren. Such’ dir deinen Sinn doch selbst, das ist die Logik der Postmoderne. Man kann den postmodernen Liberalismus also tatsächlich für ein nonchalantes, manchmal sogar menschenverachtendes Übergehen existenzieller metaphysischer und ökonomischer Bedürfnisse kritisieren. Doch diese Kritik weitet sich zu einem allgemeinen kulturpessimistischen Jammern, das zunehmend unerträglich wird.

Da die öffentliche Wahrnehmung auf die Veränderung (Migration, Wertewandel) gerichtet ist, verliert die Sozialkritik aus dem Blick, wie stark die Konstanten und wie groß die Errungenschaften sind. Die ’68er haben im Verein mit Judith Butler die Geschlechterordnung, die Ehe und die Familie kaputt gemacht? Was für ein Unsinn! Auch 50 Jahre nach ’68 ist das Standardmodell des Zusammenlebens die monogame Paargemeinschaft mit Kindern. Es lassen sich vielleicht mehr Ehepaare wieder scheiden – um eine neue Paargemeinschaft mit Kindern zu gründen. Man könnte die vielkritisierte „Ehe für alle“ doch auch als Sieg eines tradierten Lebensmodells interpretieren. Alle wollen es haben!

Ähnlich steht es um die Kritik an der vermeintlichen Beliebigkeit der „Identitätspolitik“. Es geht ja nicht darum, dass jeder sich halt fühlen darf, wie er sich fühlt, sondern um gleiche Rechte. Was als Dekonstruktion des Diskurses begann, ist zu einem Kampf um Rechte geronnen.

Wenn Dobrindt nun eine „Revolution“ fordert, darf man das ruhig ernst nehmen. Das Ziel ist eine Umkehrung der Verhältnisse, die Wiedereinführung einer Hierarchie der Werte. Das wird, wie die leidige Leitkulturdebatte zeigt, aber schon an der Frage scheitern, was denn diese Werte wären. Im Inneren der wertkonservativen Rechten klafft Leere: Die Kritik am vermeintlichen Nihilismus der Postmoderne erwächst aus einem eigenen Gefühl der Orientierungslosigkeit. Wie stellt Dobrindt sich den neuen Glanz des christlichen Glaubens vor, in einem Land, das längst säkular ist und in dem rund vier Millionen Menschen Muslime sind? Seine viel beschworene Heimat- und Vaterlandsidentität erschöpft sich in Volksfesten und dem Jubel für die Nationalmannschaft. Das ist wenig.

Die Kritik an der Gleichwertigkeit möglichst vieler Identitäten mündet in einer neuen Hierarchie von Identitäten. Dafür aber kann es in der liberalen Demokratie und auf Basis der Verfassung kein Recht geben. Der Pluralismus findet seine Schranken im Recht, aber auch jede Form „positiver“, hierarchischer Identitätspolitik. Es gibt kein Recht auf das Privileg. Es gibt kein Recht darauf, Teil eines dominierenden Lebensstils zu sein. Es gibt kein Recht auf eine Hierarchie der Werte. Es gibt allein das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz.

Bleibt die Frage, wie der Liberalismus verteidigt werden kann.

Die kritische Selbstprüfung ist sicher ein erster Schritt. Steht politisch tatsächlich das Notwendige hoch genug auf der Agenda? Das Spektrum der Kernforderungen muss tatsächlich erweitert werden, Solidarität und Sozialpolitik sollten ein stärkeres Gewicht bekommen. Allerdings ohne, wie von Lilla und Gabriel gefordert, die Identitätspolitik aufzugeben. Das Problem des Liberalismus ist auch seine Selbstverachtung und die Verächtlichmachung des Erreichten. Für Frauen und Minderheiten bessere Chancen durchgesetzt zu haben, ist eine gesellschaftliche Jahrhundertleistung, kein verzichtbares, postmodernes Gedaddel.

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