Improvisierte Musik: Free Jazz: Halbe Hunde und dicke Karpfen
Berlin ist eine Metropole der improvisierten Musik. Trotzdem leidet die Free-Jazz-Szene unter chronischer Geldnot. Ein Überblick.
Es liest sich wie ein Epitaph: „FMP im Rückblick“. Mehr steht nicht auf dem grauen Cover der opulent aufgemachten Zwölf-CD-Box und dem Einband des dazugehörigen Buches, das auf über 200 Seiten eine einzigartige Geschichte erzählt. Die Geschichte der Freien Musik Produktion, der Free Music Production, kurz der FMP, dem jahrzehntelang bedeutendsten Label in Europa für Free Jazz und improvisierte Musik.
Die historische Bedeutung des 1969 gegründeten Berliner Labels für den europäischen Jazz kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Es hat darin mitgewirkt, dass Jazz zu einer eigenständigen europäischen Musik wurde. Es nahm sozusagen den politischen Gedanken einer europäischen Union musikalisch vorweg. Nicht mehr länger spielte man in Deutschland, Norwegen oder Frankreich bloß das nach, was in den USA entwickelt wurde, ob nun Swing oder Hard Bop, sondern etablierte ein eigenes Idiom. „European Echoes“ lautete der Titel einer der ersten Veröffentlichungen der FMP.
Es folgten hunderte weitere Platten. Radikale, extreme, experimentelle Platten. Platten mit bratzigem Free Jazz von Peter Brötzmann oder Peter Kowald. Reine Soloaufnahmen des Gitarristen Erhard Hirt oder der Pianistin Irène Schweizer. Platten mit Titeln wie „Ein halber Hund kann nicht pinkeln“, „Jetzt geht’s Kloss“ oder „Vier Fäuste für Hanns Eisler“, die belegen, dass Free Jazz sich selbst nicht immer ganz ernst nimmt. Platten, auf denen bald auch Amerikaner wie Cecil Taylor oder Sam Rivers zu hören waren und die das Label zu einer Art global player machten.
Die FMP war auch ein Gegenstück und eine Ergänzung zur Münchner ECM, dem anderen wichtigen, zeitgleich gegründeten Jazzlabel in Europa, das später kommerziell deutlich erfolgreicher war. Die FMP hatte sich immer geweigert, wirtschaftlich zu denken. Sie begann als eine Musikerinitiative, als Plattenfirma von Musikern für Musiker. In Wahrheit war sie aber schon bald vor allem das Projekt von Jost Gebers, der nebenbei immer weiter als Sozialarbeiter arbeitete, da mit der Musik, die bei der FMP erschien, einfach nie ausreichend Geld zu verdienen war. Der sukzessive Rückzug Gebers’ und undurchsichtige Streitigkeiten um Lizenzrechte besiegelten im letzten Jahr das Endes des Labels.
Freie improvisierte Musik war schon immer ein Genre, in dem es so gut wie unmöglich war, von Plattenverkäufen zu leben. In Zeiten rücklaufender Tonträgerverkäufe hat sich die Situation nochmals verschärft. Selbst renommierte Musiker der Szene leben davon, dass sie auf Festivals eingeladen werden und auf subventionierten Kleinkunstbühnen auftreten dürfen. Werden die Subventionen zurückgefahren, hat man es als unkommerziell ausgerichteter Free-Jazz-Musiker schwer.
Johannes Bauer ist zusammen mit seinem Bruder Conny einer der auch international bekanntesten Posaunisten Deutschlands, er hatte sich bereits in der florierenden Free-Jazz-Szene der DDR einen Namen gemacht. Bauer findet: „Die freie Szene wird in Deutschland vernachlässigt und die Jazzfestivals pflegen eher traditionellen Jazz und nicht unseren.“ Er, der als Teil des Manfred Schulze Bläser Quintetts auch auf der FMP-Box zu hören ist, tritt immer seltener in Deutschland auf. Eher in Frankreich, Österreich und vor allem Norwegen, wo freie improvisierte Musik gefördert wird wie nirgendwo sonst in Europa. Innerhalb Deutschlands wiederum bekommt Bauer immer seltener Engagements in Großstädten, sondern eher auf dem Land, wo es noch umtriebige Vereine gibt, die sich um Fördergelder und Publikum bemühen.
In seiner Heimatstadt ist er fast gar nicht mehr zu hören. „Berlin ist inzwischen weltweit das Zentrum zeitgenössischer improvisierter Musik“, sagt er, „das ist aber nicht das Verdienst der Stadt Berlin. Die Stadt vernachlässigt die Szene extrem.“ Das sieht auch Gitarrist Olaf Rupp so, dessen CD „Stretto“, eine Dauerimprovisation zusammen mit dem Cellisten Tristan Honsinger, ebenfalls in der FMP-Box gelandet ist. „Ich spiele, wenn es irgendwie geht, nicht in Berlin“, sagt Rupp und fügt hinzu: „Hier geht einfach gar nichts.“
Das typische Berlin-Dilemma scheint die Szene der frei improvisierenden Musik ganz besonders zu treffen: Man lebt hier, weil die Mieten immer noch bezahlbar sind. Und man lebt hier, weil in Berlin, wie Johannes Bauer es nennt, „viele Dinge entstehen“, musikalische Projekte angeschoben und Bands gegründet werden. „Es gibt so viele gute Musiker hier und es gibt ein gutes Publikum. Aber es gibt eben kein Geld“, fasst Rupp die Problematik zusammen. Feste Gagen würden immer seltener bezahlt werden, stattdessen ginge an vielen Veranstaltungsorten bloß noch sprichwörtlich der Hut rum.
„Die staatliche Unterstützung der Improvisationsszene in der BRD“, so die These Rupps, „hörte mit dem Ende des Sozialismus auf.“ Da könnte etwas dran sein, auch wenn man bedenkt, dass erstaunlicherweise ausgerechnet Free Jazz in der DDR so boomte. Die Bauer-Brüder, Ernst-Ludwig Petrowsky, Günter „Baby“ Sommer, sie alle spielten Free Jazz auf internationalem Niveau. Sie genossen Privilegien und durften im Ausland auftreten. Die Free Jazzer in der DDR hatten ihr Auskommen, da hätte es sich der Westen im Kampf der Systeme gar nicht leisten können, die eigenen Künstler verarmen zu lassen.
Von Free Jazz als Politikum handelt auch das kürzlich erschienene Buch „Woodstock am Karpfenteich“, das die Geschichte des Free-Jazz-Festivals in Peitz, einem Kaff in der Nähe von Cottbus, erzählt. Viele der FMP-Musiker aus dem Westen traten in den Siebzigern hier auf, Peitz war das Äquivalent zum Berliner „Total Music Meeting“. Sein Begründer, Ulli Blobel, ist heute so etwas wie der Jazzpapst Berlins. Als Veranstalter, Labelbetreiber und mit Hilfe seines Fördervereins, der Jazzwerkstatt, hat er teilweise das Erbe der FMP übernommen. Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann, aber auch US-Stars wie Ornette Coleman oder Gary Peacock haben hier veröffentlicht. Auch Olaf Rupp und Johannes Bauer. Blobel scheint das wirtschaftliche Geschick zu haben, auf das Gebers, der inzwischen nach Borken bei Münster gezogen ist, nie viel Wert gelegt hatte. „Ulli Blobel ist der einzige, der hier noch die Gelder auftreibt“, sagt Johannes Bauer.
Der Anspruch der Jazzwerkstatt ist aber doch ein anderer als der der FMP, sagt Olaf Rupp. „Ich kümmere mich darum, egal, ob ich damit Geld verdiene“, das sei der Jost-Gebers-Spirit gewesen, den sich die Jazzwerkstatt in der Form nicht mehr leisten würde. Vielleicht auch nicht mehr leisten könne. So etwas wie die FMP wird es wohl nie wieder geben.
„FMP – Im Rückblick 1969-2010“; Uli Blobel (Hg.): „Woodstock am Karpfenteich – Die Jazzwerkstatt Peitz“, 207 S., 19,90 €
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