Musik: Frédéric Chopin: Der ferne Freund
Populär und postmodern: Vor 200 Jahren wurde Frédéric Chopin geboren. Bis heute tut sich die Musikwelt mit seiner Radikalität schwer
Beim Datum fängt die Verwirrung an: Lange hat die Musikwelt mit Nicolas Chopin, dem Vater, geglaubt, sein Sohn Fryderyk Franciszek sei am 22. Februar 1810 in Zelazowa Wola unweit von Warschau zur Welt gekommen. So steht es auch im Taufschein. Die Mutter allerdings, Tekla Justyna, pflegte dem Sohn am 1. März zum Geburtstag zu gratulieren. Exakt eine Woche Leben mehr oder weniger: Vielleicht ist beim Eintrag ins Kirchenregister einfach die Zeile verrutscht, vielleicht irrt das mütterliche Herz.
Vielleicht ist es aber auch so, in Chopins kurzem Leben wie in seiner Kunst, dass von Anfang an das Ungefähre zählt, das Flüchtige, Zerbrechliche, Graziöse. „Sfogato“, luftig, lautet eine seiner bevorzugten musikalischen Anweisungen, und es versteht sich, dass sfogato nur das gespielt werden kann, was Bodenhaftung besitzt und einen Kern. Fürs Leben mag Chopin nicht tauglich gewesen sein, ein ewiger Zögerer und Zitterer und Zauderer; in der Arbeit ist er unerbittlich: An einzelnen Stücken feilt er nächte-, wochen-, monatelang, bis die letzte Verzierung sitzt. Sein Skizzenpapierverbrauch muss unermesslich gewesen sein. Chopin ist kein Komponist für Tastenschlamper.
Trotzdem wird der Meister der Miniatur, der Erfinder der Klavierballade, der Genius der Préludes und Etüden, der Sänger so vieler populärer Mazurken, Walzer, Polonaisen und Nocturnes als „Ariel“ der Musikgeschichte apostrophiert. Und nicht nur André Gide möchte, dass Chopins Musik „fast immer halblaut“ dargeboten werde, „ohne jedes Aufsehen“. Pianistische Kraftmeierei ist hier fehl am Platz – Einfallslosigkeit und Sentimentalität aber auch. Leichter als jede andere kann diese Musik von ihren Interpreten in den Himmel gehoben oder in die parfümierte Nichtigkeit herabgestoßen werden. Die vier Minuten des schlagerseligen Es-Dur-Nocturnes op. 9,2 etwa oder die fünf des fast noch berühmteren „Regentropfen“-Préludes feiern den Augenblick und, ganz pragmatisch, das Ich im Hier und Jetzt. Bei Chopin ist die Inspiration Bestandteil des Werks. Wo es an ihr fehlt, wo nur gespielt wird, was in den Noten steht, erkaltet seine Musik – unwiderruflich und viel schneller als bei Bach oder Mozart, die Chopin auch deshalb so verehrt, weil sie die klassischen Formen erfüllten. Er selbst hat diese bestenfalls aquarelliert.
Pianisten wie Alfred Cortot, Vladimir Horowitz, Arturo Benedetti Michelangeli, Krystian Zimerman oder Martha Argerich waren stets exzentrisch genug, daraus ihre Schlüsse zu ziehen. Viele Junge sind es heute nicht, und das macht mehr ums 21. Jahrhundert besorgt als um Chopin. Lang Langs Aufnahme der beiden Klavierkonzerte hat außer stupendem Glitzerwerk nicht viel zu bieten, und wenn Olga Scheps oder Alice Sara Ott Chopin-Alben auf den Markt werfen, dann sehen sie dabei so lieb und harmlos aus, wie sie spielen. Kleine CDs für das flotte Jubiläumsgeschäft.
Frédéric Chopin, hat Arthur Rubinstein einmal gesagt, sei der einzige Komponist von Weltruf, der wirklich populär sei. Diese Popularität hat ihren Preis. Fast dem gesamten 19. Jahrhundert gilt seine Musik als süß bis süßlich, ätherisch zart und romantisch versponnen. Und nach wie vor tut sich die Forschung schwer, aus der Intimität, dem Tête-à-Tête, das die Musik setzt, auszubrechen und Chopin im Kontext zu zeigen. Dabei ist er eine derart ambivalente Figur, dass die Moderne sich nach ihm hätte alle Finger lecken müssen. Tut sie aber nicht. Und das hat Gründe.
Einerseits sind Klischees hartnäckig: der dauerhüstelnde polnische Dandy, der in den Hinterzimmern der Pariser Hautevolee präludiert; der Salonpatriot, der sich vor Sehnsucht verzehrt und vor Selbstmitleid zerfließt. Andererseits ist Chopin leider kein Mendelssohn, der vom bürgerlichen Musikleben träumt und davon, dass jeder Orchestermusiker ein fixes Gehalt und eine Rente bezieht. Chopin gehört der Halböffentlichkeit und insofern eher der Postmoderne: Lässt der Flaschenpostcharakter seiner Musik – das Verschlüsseln, um (richtig!) entschlüsselt zu werden – nicht an die virtuellen Räume denken, in denen wir uns heute bewegen? Chopin ist der Künstler- „Freund“ auf Facebook, fern und nah zugleich. Länger als Kurzmitteilungen im Internet-Chat sind bei ihm höchstens die Kopfsätze seiner beiden großen Sonaten, die Balladen oder das berüchtigte Andante spianato et Grande Polonaise brillante für Klavier und Orchester.
Frédéric Chopin: ein Pole, der die Hälfte seines Lebens in Frankreich verbringt. Ein gefeierter Virtuose, der jedes Reisen und Konzertieren hasst und in seinem Leben kaum 50 öffentliche Konzerte gibt. Ein Komponist, der die Oper liebt und fast ausschließlich fürs Klavier schreibt. Ein Pianist, der konsequent zu leise spielt – im „Beichtstuhlton“, wie André Gide schön sagt. Ein Romantiker, der weder von Literatur noch von Malerei viel versteht. Ein Patriot, der das Schicksal seines Vaterlandes aus dem selbst gewählten französischen Exil verfolgt, mit brennendem Herzen. Ein Lehrer, der 17 Jahre lang unterrichtet, aber – im Gegensatz zu Liszt – keine Schule bildet. Und ein 39-Jähriger, der schließlich einen elenden Frauentod stirbt. Auf Mallorca, an der Seite von George Sand, spuckt er „Wannen voll Blut“. Anfang Oktober 1849, kurz vor seinem Tod, lässt Chopin alle unvollendeten und nicht herausgegebenen Partituren verbrennen. Um die korrekte Datierung vieler Werke, um einzelne Handschriften und eine kritische Gesamtausgabe ringt man bis heute.
Vielleicht ist das Politische aber das größte Desiderat. „Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen“, bemerkt Robert Schumann, sehr hellsichtig, und meint den Zaren, der im russisch regierten Polen solch grimmige Polonaisen wie die in fis-Moll op. 44, solch subversive Mazurken eigentlich untersagen müsste. Die Nazis, das muss man ihnen lassen, haben die Botschaft verstanden: Ab Herbst 1939 bleibt Chopin im deutsch besetzten Polen verboten. Chopins praktisch- politisches Engagement indes scheitert früh, man kann ihn leicht für einen typischen Eskapisten halten. Der junge Musiker ist in Wien, als in Warschau 1830 der Novemberaufstand ausbricht. Sein Jugendfreund Tytus Woyciechowksi kehrt in die Heimat zurück, Chopin zögert und reist dem Freund schließlich hinterher, Hals über Kopf – und zu spät. Tytus’ Postkutsche ist weg, allein traut er sich nicht. „Im Salon spiele ich den Ruhigen, doch wenn ich heimgekehrt bin, donnere ich auf dem Klavier“, ja, so sieht er sich.
Dass die Fremde für ihn ein wesentliches Leidens- und Inspirationsmoment darstellt, lauscht man vor allem den früheren Werken ab. In seinen Mazurken ist Chopin am radikalsten: radikal nicht-virtuos, radikal einsam, radikal stilisiert, radikal folkloristisch auch. „Nicht zum Tanzen“, lautet eine Anweisung, als würde man es je wagen, zu dieser klingenden Offenbarungskunst im ¾-Takt den Fuß zu rühren. Man hat es hier mit Selbstgesprächen zu tun, einer inneren Emigration: Harmonisch wie modulatorisch gehören die Mazurken zu Chopins progressivsten, offensten Werken, Debussy und Wagners „Tristan“ sind nicht mehr weit. Die Gefahr, seine aristokratischen Salonlöwen zu überfordern, nimmt er in Kauf. Musik ist autonom, sagt Chopin. Sie kann auch nicht verstanden werden – und ist trotzdem da.
Und der Mensch, der Mann? „Stets bin ich, was meine Gefühle anlangt, mit anderen in Synkopen“, schreibt der 21-Jährige. Die Begegnung mit der Schriftstellerin Amandine-Aurore-Lucile Dupin de Francueil alias George Sand 1836 gibt ihm Auftrieb und Halt. Diese Frau in Männerkleidern ist und kann alles, was er nicht kann und ist und befreit ihn zu sich selbst. Seine b-Moll Klaviersonate, die auf Mallorca entsteht, erzählt davon. Nicht die Blütenträume der jungen Liebe jedoch sind Gegenstand dieser Partitur (die „Realität des Fleisches“ hat Chopin übrigens nie interessiert), sondern Verstörung, bis in die musikalische Textur hinein. Eine Lebensangst- und Todesmusik, fast aller satztechnischen und harmonischen Stützen beraubt. So klingt, lange vor Freud, die Psyche. Musik als Ausdruck einer Grenzsituation und -erfahrung, Musik an der Schwelle. In Palma, auf der Rückreise nach Frankreich, erleidet Chopin einen fürchterlichen Blutsturz. Der berühmte Marche funèbre, der dritte Satz der Sonate, zwei Jahre zuvor komponiert, wird zum Menetekel.
Krankheit als Metapher? Mit George Sand, heißt es, habe Chopin wunderbar schweigen können. Nicht reden, nur Klavier spielen. 1847 kommt es zur Trennung, zwei Jahre später ist Chopin tot. An seinem Sterbebett singt die Primadonna Delfina Potocka Arien, Scharen von Zeichnern halten die letzten Stunden fest. Erstickungsanfälle, Fieber, Delirium: Der Tod als öffentliche Angelegenheit, es ist eben alles schon einmal da gewesen. Chopins Gebeine werden auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise begraben, sein Herz überführt man nach Warschau, in die Heilig Geist Kirche, so hat er es gewollt. Ein drastischer, ein pathetischer Akt. Wer hätte ihm das zugetraut.
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