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Wandlungsfähig. 1814 malte Ingres das Frauenbild „Große Odaliske“. Spätere Bilder von ihm sind weniger idealisiert und zeigen detailreich den Stil der Zeit.
© Musée du Louvre

Ingres-Schau in Madrid: Französische Ansichten

Das Museo del Prado in Madrid zeigt Werke von Jean-Auguste-Dominique Ingres - und damit den sich rasant ändernden Geist Frankreichs im frühen 19. Jahrhundert.

Es mag bloßer Zufall sein, dass das „Bildnis der Gräfin d’Haussonville“ von Jean-Auguste-Dominique Ingres sowohl den Umschlag des maßgeblichen, vom seinerzeitigen Louvre-Direktor Henri Loyrette 2002 herausgegebenen Buches „Französische Kunst des 19. Jahrhunderts“ ziert als auch den Flyer zur gegenwärtigen Ausstellung „Ingres“ im Madrider Prado. Die vorzüglichen Beziehungen, die seit einigen Jahren zwischen Prado und Louvre immer enger geknüpft werden, machen sich hier bezahlt: Nicht einmal in Paris selbst kann man das Werk dieses Malers, das nicht weniger als die ersten sechs Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts überspannt und diese entscheidend mitgeprägt hat, in solcher Dichte sehen.

Dass gerade ein Porträt wie das besagter Gräfin aus dem Jahr 1845 zu solcher Prominenz gekommen ist, sagt viel über das heutige Verständnis der Kunst von Ingres (1780–1867) aus. Für den Maler selbst waren die zahlreichen Bildnisse der 1830er und 1840er Jahre zuallererst eine sichere Quelle des Einkommens; darüber hinaus halfen sie ihm über wiederholte Ablehnungen hinweg, die er bei der maßgeblichen Ausstellung im Pariser Salon erfahren musste. Aus heutiger Sicht erstaunt das kritische Urteil der Zeitgenossen. Doch beim Durchwandern der mit Hauptwerken reich bestückten Ausstellungssäle im modernen Anbau des Prado werden die Brüche des Œuvres sichtbar. Ingres begann als Schüler von Jacques-Louis David im Frankreich von Revolution und Napoleon, malte heroische Szenen zumeist aus der Antike, arrangierte sich danach in der nach-napoleonischen Zeit der Re-Katholisierung und malte religiöse Historienbilder unter Rückgriff auf mittelalterliche Stilformen, erlebte und befestigte dann aber den Siegeszug des bürgerlichen Zeitalters mit seinem ungeschminkten Realismus.

Die Schau ist eine Sensation, besser als im Louvre

Als er Napoleon 1806 im kaiserlichen Ornat wie einen byzantinischen Gott-Kaiser malt – nach Madrid ausgeliehen aus dem Musée de l’Armée –, fällt er bei der umworbenen Machtelite des korsischen Usurpators krachend durch; das Regime wollte sich lieber im Schlachtenglanz sonnen. Bald aber malt Ingres mit der „Großen Odaliske“ von 1814 ein idealisiertes Frauenbild, das erkennbar den gleichen Rang beansprucht wie Vorbilder Raffaels. Und er malt den „Traum des Ossian“, das die in ganz Europa grassierende Romantik-Mode des vermeintlichen gälischen Dichters Ossian – in Wahrheit eine zeitgenössische Fälschung des Schotten MacPherson – aufgreift. Das Riesenbild kommt aus Ingres’ eigenem Museum in seiner südfranzösischen Heimatstadt Montauban, wie zahlreiche weitere Leihgaben, die die Ausstellung in Madrid über die gewöhnlich im Louvre zu bewundernden Standardgemälde hinaus zu einer Sensation machen.

Während der Restauration und auch später ging Ingres wiederholt nach Italien. Die Darstellung der Künstlerliebe zwischen Raffael und seiner „Fornarina“ wurde ein beliebtes Sujet der Romantik, und Ingres gab ihr in mehreren Bildern gültigen Ausdruck. Zugleich entstanden Historienbilder wie die wuchtige „Jeanne d’Arc“. Mit dem Altarbild des „Martyriums des Hl. Symphorium“ – heute in der Kathedrale von Autun – erlebte Ingres beim Salon des Jahres 1834 eine schmerzliche Abfuhr, während die konkurrierende „Lady Grey, zum Richtblock geführt“ von Paul Delaroche den Siegeszug des großformatigen weltlichen Historienbildes markiert.

Spätzünder. Für den Maler Ingres waren Bildnisse wie das der Gräfin d’Haussonville eine sichere Einkommensquelle. Heute interessieren sie an seinem Werk mit am meisten.
Spätzünder. Für den Maler Ingres waren Bildnisse wie das der Gräfin d’Haussonville eine sichere Einkommensquelle. Heute interessieren sie an seinem Werk mit am meisten.
© The Frick Collection, New York

Im Jahr zuvor jedoch hatte Ingres mit dem Porträt des Selfmademan und Pariser Zeitungsmagnaten Joseph Bertin, knapp betitelt „Monsieur Bertin“, ein Schlüsselbild der Epoche geliefert: Hier ist der Repräsentant sowohl der nunmehr führenden Bourgeoisie als auch der rasant sich entwickelnden Mediengesellschaft. Nur wenige Jahre später wird die Fotografie erfunden, das künftige Massenmedium, das Ingres mit wachem Instinkt als drohendes Ende der Malerei wahrnimmt. Seine mit gleich bleibender Qualität folgenden Damenporträts zeigen in ihrer unnachahmlichen Wiedergabe von Stoffen und Gegenständen, die die makellosen Gesichter rahmen, eine Gesellschaft, die sich durch Besitz und Schaustellung definiert – eben jene, der der „Bürgerkönig“ Louis-Philippe das Lebensprinzip des „Bereichert Euch!“ entgegengerufen hatte.

Ingres begann als Idealist, der die Antike als Tugendvorbild ausmalte, und endete als Realist, der seine Zeit ins Bild und auf den Begriff brachte. Im Prado ist eine ganze Epoche zu besichtigen, gespiegelt im Œuvre eines ihrer bedeutendsten Vertreter. Eine Sternstunde, die nicht einmal der Louvre allein bieten kann.
Madrid, Prado, bis 27. März. Katalog 33,25 €. – Tickets: www.museodelprado.es

Bernhard Schulz

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