Oscar-Sieger aus Ungarn: der Auschwitz-Film "Son of Saul": Flüstern und Schreie
Triumph über das Tabu: László Nemes stellt in „Son of Saul“ den Alltag im Todestrakt von Auschwitz nach – und gewinnt damit den Auslandsoscar.
Das ist eine jener Herausforderungen, wie sie einem Branchenmedium wie dem „Hollywood Reporter“ zupass kommen: auch den Hintergrundbericht über einen Holocaustfilm-Dreh so anfeaturen, dass die Einstiegsepisode auf ihre Weise sitzt. Da besichtigen also der Regisseur László Nemes und sein Kernteam erstmals die alte Lagerhalle bei Budapest, die für „Son of Saul“ als KZ-Todesfabrik dienen soll, und beim Rundgang fällt die Stahltür zur künftigen Set-Gaskammer zu. Plötzlich ist Kameramann Mátyás Erdély eingeschlossen, und – so erinnern sich die Beteiligten – als die Tür wieder geöffnet wird, kommt er „total blass und geschockt“ heraus.
Eine in mehrerlei Hinsicht bedeutsame Szene: Nicht nur haben Erdély, Nemes und auch der spätere „Son of Saul“- Hauptdarsteller Géza Röhrig allesamt Vorfahren aus der Groß- und Urgroßelterngeneration im Holocaust verloren, auch bewegen sie sich mit diesem ungarischen Spielfilmdebüt auf narrativem Neuland. Und mitten in ein so noch kaum je angekratztes kinematografisches Tabu hinein. Kein tröstliches Märchen aus dem Lager wie etwa in Roberto Benignis „Das Leben ist schön“ (1998) soll hier erzählt werden, auch keine aufbauende Heldengeschichte vom guten Nazi-Geschäftsmann und Judenretter wie in Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ (1994), wo sich aus den Duschköpfen in Auschwitz wundersamerweise Wasser über den zusammengedrängten Leibern ergoss. Sondern eine finstere Story, die mit der Gaskammer erst beginnt. Womöglich haben sich die Filmemacher da nach dem Zwischenfall in der Lagerhalle kurz so gefühlt wie Pandora, nachdem sie die von Zeus geschenkte Büchse geöffnet hatte.
Arbeit in der Gaskammer und im Krematorium
Der Kinoheld Saul Ausländer arbeitet, wie Dutzende andere jüdische KZ-Häftlinge, in einem Sonderkommando, das einer Gaskammer und einem Krematorium zugeordnet ist. Zu seinen Aufgaben gehört es, die neuangekommenen Juden in den Entkleidungsraum zu eskortieren, sie zu beruhigen und sodann in die Gaskammer zu drängen. Weiter müssen die zu diesen Arbeiten abkommandierten Juden die Gaskammern von Fäkalien reinigen, die Leichen zum Krematorium bringen, sie verbrennen und die Asche in einen nahen Fluss schütten. Nach wenigen Monaten werden die Angehörigen der Sonderkommandos getötet, damit von dem, was sie auf Befehl der Deutschen tun müssen, nichts jemals an die Außenwelt dringt.
„Son of Saul“ spielt an zwei Tagen im Oktober 1944, als täglich Tausende von Juden in Auschwitz verbrannt wurden. Und tatsächlich ist es den SS-Leichenfabrikanten – Tote wurden als „Stücke“ bezeichnet – nicht gelungen, über die Details ihres Handelns das alles erstickende Schweigen zu bewahren. Versteckte Notizen von Angehörigen der Sonderkommandos wurden nach dem Krieg gefunden, und vor der Kamera des Dokumentarfilmers Claude Lanzmann haben sich in „Shoah“ (1985) Filip Müller und Abraham Bomba, zwei der wenigen Überlebenden, ihrer qualvollen Erinnerung gestellt. Diese Quellen hat László Nemes sorgfältig ausgewertet – und für sein durchaus kunstvolles „reenactment“ nicht der KZ-Barackenlagerwelt, sondern der organisierten Todeszone von Auschwitz nicht nur den Großen Preis der Jury in Cannes, den Golden Globe und den Auslandsoscar, sondern auch den Segen von Claude Lanzmann selber erhalten.
Claude Lanzmann: der Hüter des Bilderverbots
Vor allem letzteres ist bemerkenswert. Denn Lanzmann galt als der absolute Hüter des Bilderverbots in Sachen Holocaust – mit guten Gründen: Kein re-inszeniertes Bild, predigte er, könne je authentisch sein, zudem verbiete es sich, das Leiden der Menschen schlicht zu spielen. Der Holocaust sei wie eine „schwarze Sonne“, sagte er, seine Bilder töteten die Imagination – und tatsächlich wirkt die pure Vergegenwärtigung etwa einer Erinnerung in der Vorstellungskraft ungleich stärker als jegliche visuelle Fixierung. Ja, in der Debatte um „Schindlers Liste“ behauptete Lanzmann sogar, er hätte von der SS aufgenommenes Dokumentarmaterial aus den Gaskammern zerstört, wenn er Entsprechendes bei seinen Recherchen gefunden hätte.
Bei „Son of Saul“ dürften einige narrative und ästhetische Grundsatzentscheidungen den strengen Hüter der Erinnerung milde gestimmt haben. So setzt László Nemes – zumindest vom Ergebnis seiner selbst erdachten dramatischen Erfindung her – nicht auf eine tröstliche Ausnahme von der Regel. Saul, der in einem halbwüchsigen Jungen, der zunächst die Gaskammer überlebt, seinen Sohn zu erkennen glaubt, scheitert in dem Bemühen, den kurz darauf von einem SS-Arzt Getöteten vor dem Krematorium zu bewahren. Die Kamera ihrerseits belässt fast immer, scheinbar diskret, den Hintergrund in der Unschärfe und fokussiert nur, was Saul noch wahrnimmt: die Mithäftlinge, die Kapos, die SS-Befehlshaber, die Lagerärzte, denen er den Leichnam des Jungen zwecks jüdischem Begräbnis entwinden will.
Zeigen und nicht zeigen zugleich: Wie soll das gehen?
Fast ausschließlich aus der Perspektive von Saul, zudem ins 4:3-Filmformat gezwängt, soll der Zuschauer das Geschehen erfassen und so mit hineingesogen werden in die Hölle dieses Alltags. Doch dieses Konzept ist nur scheinbar radikal. Schon die kontinuierliche Unschärfe steht für den Kompromiss. Niemand unter den Opfern soll identifizierbar, nichts der Hybris spekulativer Ausstellung verdächtig sein. Andererseits nimmt der Film den Gruseleffekt der Andeutung gerne mit. Zeigen und nicht zeigen gleichzeitig: Auch „Son of Saul“ gelingt es nicht, dieses Paradox aufzulösen.
Selbst die dramatische Struktur erweist sich bei genauerem Hinsehen als verblüffend konventionell, ja, fast an den Erzählmustern des Actionfilms angelehnt. Wie anders wäre etwa die heftige Einstiegsszene mit der Ankunft eines Transports zu deuten – das Schreien der Menschen, ihr Gegen-die-Türen-Schlagen hinter der Gaskammer bis hin zur schrecklichen Stille? Wie das virtuos gesteigerte Mitfiebern, parallel in der Suche Sauls nach einem Rabbi für die Bestattung des Kindes und in der Vorbereitung der historisch überlieferten einzigen Häftlingsrevolte in Auschwitz, während die Frequenz der Transporte immer dichter wird? Und was ist, schlicht spannungsdramaturgisch, von der langen Einstellung zu halten, in der nackte Menschen nun hastig an einer durch Feuer erleuchteten Grube erschossen werden, weil die Krematorien überlastet sind?
Schreie und Schüsse aus dem Off
Nicht zuletzt die Tonspur, an der Nemes und sein Sound-Designer Tamás Zányi fast fünf Monate gearbeitet haben, setzt eindeutig auf den Thrill. Auf ihr sind, wohl zum Ausgleich für das enge Bildformat, unablässig aus dem Off Befehle und Schreie, Schüsse und Hundegebell zu hören, die das gelegentliche Flüstern der Häftlinge grundieren. Auch diese „autonome akustische Dimension“ (Zányi) wirkt bald wie der massiv orchestrierte Score eines Actioners, der das Zuschauerempfinden auch während dramaturgischer Hänger voranpeitscht.
Keine Frage, Laszlo Nemes war es um eine konfrontative Zuschauererfahrung, um das „Eintauchen“ aus einer dominierenden Perspektive zu tun. Doch ist ihm „Son of Saul“ – schaut man kühl auf das Bauprinzip und die verwendeten Materialien – zu einem nicht einmal ungewöhnlichen Thriller geraten, mit seltsam Untoten, die stieren Blicks ihre Verrichtungen tätigen, von dem schmale Hoffnung auslösenden Plot abgesehen. Eine Geisterbahnfahrt ist „Son of Saul“, mit fragwürdigem Schauder. In nichts zu vergleichen mit jener Erschütterung für immer durch „Shoah“: ein Zimmer, ein Mann auf einem Sofa hockend, sein Gesicht, ein Mensch, der sich erinnert. Und die Stille zwischen den Sätzen.
Ab Donnerstag in Berlin im Delphi, FaF, fsk, Kant und Moviemento (alle OmU)
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