Filmfestival in Cannes: Flügel und Fesseln
Cannes gibt sich bildersüchtig: Neue Filme mit Kristin Scott-Thomas und Michael Douglas.
So hat man Kristin Scott-Thomas noch nie gesehen! Mit langer blonder Perücke, im hautengen Zebra-Dress, die ohnehin riesigen Augen durch umgebende Verdunkelungsmaßnahmen noch riesiger wirkend, spielt sie die Mutter zweier in Thailand schwer auf Abwege geratener Söhne. Soeben ist Crystal in Bangkok eingeflogen, weil man ihren Ältesten umgelegt hat, und was sagt sie, als sie erfährt, dass er zuvor eine 16-Jährige vergewaltigt und ermordet hat? „Er wird wohl seine Gründe gehabt haben.“
Eine derart antitypische Dialogzeile wird jener Schauspielerin besonders gefallen haben, die man sonst gern im allzu zarten Fach besetzt. Spaß daran hatte gewiss auch Regisseur und Drehbuchautor Nicolas Winding Refn, der mit seinem oberblutigen Bangkok-Thriller „Only God Forgives“ am Mittwochmorgen vor allem jene Festivaliers schockierte, die noch nicht solide gefrühstückt hatten. Sein „Drive“-Held Ryan Gosling spielt den jüngeren, ungeliebteren Sohn der Mutterfurie und soll nun den Tod des Bruders rächen. Leider steht dem Vorhaben Polizeichef Chang (Vithaya Pansringarm) entgegen, der sich auf den Umgang mit Schwertern, Fäusten und Pistolenkugeln ebenso gut versteht wie auf hochromantischen Karaokegesang.
Trotzdem: Refns Genrestück ist, verglichen mit seinem superb vielschichtigen „Drive“, eine herbe Enttäuschung – da mag er dem Leinwandgemetzel noch so viel religiösen Überbau hinzuplaudern wollen. Zu statuarisch die meist zeitlupenlangsam einherschreitenden Schurken in vorzugsweise blutrot ausgeleuchteter Szenerie und nirgendwo eine Figur, in deren Leid man hineinschlüpfen könnte; Katharsis gehört schließlich auch zum Genre. Dabei hat „Only God Forgives“ als Stilübung erst durchaus das Zeug zu einem „Ghostdog“ à la Fernost. Bald aber lässt, etwa in der Feier gewalttätig eskalierender ödipaler Spätstörungen, eher der „Antichrist“ des Refn-Landmanns Lars von Trier grüßen.
Wer toppt das neue Scott-Thomas-Faszinosum? Michael Douglas als Tunte! In Steven Soderberghs „Behind the Candelabra“ spielt der coole Gordon-Gekko-Macho den Pianisten, Entertainer und Las-Vegas-Superstar Liberace, nein, Douglas ist Liberace, und Matt Damon ist Liberaces blonder Jüngling Scott Thorson. Eigentlich will Scott ja Veterinär werden – der steinreiche Virtuose aber macht ihn zu seinem Lebensabschnittsschoßhündchen. Oder ist es Liebe? Ja, es ist Liebe, beiderseits, Eifersuchtsszenen und finaler Rosenkrieg inklusive. Scott, bei Pflegeeltern aufgewachsen, findet in dem einsamen Egomaniac einen neuen Ersatzvater, und Liberace hält durchaus eine Weile zu Scott. Bis ein noch jüngerer, noch knackigerer Kerl hermuss.
Soderberghs für den Fernsehsender HBO gedrehtes Biopic, sein allerallerletzter Film vor einem in der Dauer nicht näher bezeichneten Sabbatical, funkelt und glänzt und blendet vor allem als Zeitstück der siebziger und achtziger Jahre, mit Luxus und Liftings, Koks und Aids. Irgendwann aber, wenn die soziale Grundkonstellation so perfekt ausgeleuchtet ist wie der Dekor mit den Kandelabern auf den Show-Flügeln von Las Vegas, tritt auch Soderberghs Biopic so auf der Stelle wie Refns Splatter-Movie. Beide Filme bleiben in den Grenzen des Genres. Vom Wettbewerb in Cannes aber darf man mehr als pure Varianz erwarten.
Das Festival frönt dieses Jahr einer seltsam matten Lust am Glamour
Nun könnte man einwenden, auch Paolo Sorrentinos „La grande bellezza“ sei nichts weiter als das Kombi-Remake aus Fellinis „La dolce vita“ und „Roma“. Tatsächlich funktioniert Toni „Il Divo“ Servillo, der seinen Jep Gambardella mit wunderbarer Nonchalance spazieren führt, dramaturgisch ähnlich wie der junge Marcello Mastroianni, der als Party-Animal und Society-Journalist dem süßen römischen Leben der späten 1950er Jahre nichts mehr abgewinnen kann. „La grande bellezza“ – die große Schönheit – hat auch Jep, der mit 26 Jahren nach Rom kam, einen Roman schrieb und dann ins Klatschfach wechselte, nicht gefunden, aber immerhin „König der Mondänen“ ist er geworden. Der Preis dafür heißt Misanthropie, eine Prise Selbstekel inklusive.
„La grande bellezza“ atmet jene so bildersüchtige wie seltsam matte Lust am Glamour, die seit dem Eröffnungsfilm „The Great Gatsby“ das Festival überstrahlt. Auch Paolo Sorrentino weidet sich an der Oberflächlichkeit, geht ihr aber nicht in die Falle. Wie bei Fellini ist es die Melancholie, die Spannung und Distanz zum Milieu herstellt und es zugleich aushöhlt. Und: Jep ist 65, kein Mittvierziger wie Mastroianni damals. Also weht ein Hauch von Abschied über allem – und dass er einmal eine 104-jährige Nonne interviewen soll, die seit Jahren schweigt, gehört zu den sarkastischsten Drehbuchpointen. Hatte er nicht gleich verkündet, er stehe neuerdings auf den Geruch von Altenheimen und nicht mehr auf Pussy?
„La grande bellezza“ ist ein fast zweieinhalb Stunden lang dahintreibender, extrem unterhaltsamer, böser, komischer, tieftrauriger und vor allem meditativer Abgesang auf das Leben. Darin ähnelt er Sorrentinos unterschätztem „This Must Be the Place“ (2011) mit Sean Penn, nur dass Jep jeder Antrieb zu einer neuen, noch so verrückten Aufgabe fehlt. Für seine sexuellen Bedürfnisse bedient er sich bei dahinblühenden Schönheiten, und kommt eine veritable Affäre wie die mit einer alternden Stripperin dazwischen, hilft der Tod ex machina aus und bringt ihn wieder in die ausgelatschte Spur. Was Jep bleibt und ihn auf eigenartige Weise wärmt, ist sein Zynismus – und die Erinnerung an die erste Liebe. Da wird selbst einer wie Jep sentimental.
Sorrentinos Film, der auch „Die große Desillusion“ heißen könnte, ist ein Palmenanwärter, wie Asghar Farhadis „Le passé“ oder „Inside Llewin Davis“ der Coen-Brüder. Sie alle nehmen geläufige Ausgangspunkte, wagen sich dann aber ins Ungewisse, in das unkaputtbare Abenteuer namens Kino.
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