Norbert Scheuer: Roman "Die Sprache der Vögel": Flug und Feder
Zwischen Afghanistan und Eifel: Norbert Scheuer feiert in seinem grandiosen Roman „Die Sprache der Vögel“ die Kraft der Fantasie.
Fliegen müsste man können, hoch oben in der Luft seine Kreise ziehen, fernab von aller Erdenschwere, ohne Grenzen und Absperrungen. Es ist ein alter Traum der Menschheit, den Norbert Scheuer seinem jungen Helden in die Seele pflanzt. Und es gibt konkrete Gründe dafür. Paul Arimond hat sich freiwillig als Sanitätsobergefreiter nach Afghanistan gemeldet. Es ist ein Ausweg aus seinem bisherigen Leben. Außerdem will er dort Vögel beobachten, so wie er es früher getan hat, gemeinsam mit dem Vater. Doch der Vogelflug ist in diesem Roman mehr als ein Handlungselement. Er ist auch das Sinnbild seiner Poetik. Alles kommt in die Schwebe und spielt sich in einem Zwischenreich ab: zwischen Realität und Fantasie, zwischen Prosa und Poesie, Sprache und Bild, Leben und Tod.
Das Werk des 1951 geborenen Norbert Scheuer, das aus Gedichtbänden, Erzählungen und fünf Romanen besteht, war bisher fest in der Eifel verankert, oft sogar in Kall, dem Dorf, wo er mit seiner Familie lebt. Es kommt da einer kleinen Revolte gleich, wenn sein neuer Roman in Afghanistan spielt, auch wenn sein zweites Standbein in der Eifel bleibt. Nicht nur in Pauls Erinnerung springt die Geschichte zwischen dem afghanischen Feldlager und seinem Heimatort hin und her. Neben den tagebuchähnlichen Notizen aus Afghanistan von April 2003 bis Juni 2004 gibt es eine zweite Erzählinstanz. Sie berichtet, was in seiner Abwesenheit in der Eifel vorgeht, und sie bindet das Konvolut der Notizen in eine weitere Geschichte ein. Norbert Scheuer hat viel recherchiert für seinen Roman, dessen Auslöser die Begegnung mit einem ehemaligen Afghanistan-Soldaten gewesen sein soll. Mit einer Vierzehenschildkröte neben sich auf der Bank saß er eine Zeit lang regelmäßig im Supermarkt-Café von Kall, so schildert es der Autor im Nachwort, und erzählte seine Geschichte.
„Die Sprache der Vögel“, so filigran konstruiert wie eine Feder
In eindrucksvollen Szenen vergegenwärtigt Scheuer den Alltag eines Isaf-Soldaten: die Langeweile, die Hitze, das enervierende Geräusch der Klimaanlage, die Kabbeleien unter den Kameraden, die Ablenkungen durch Spiele und Trinkgelage. Wenn Verletzte in die Sanitätsstation gebracht werden oder Einsätze anstehen, ist das beinahe eine Abwechslung. Einmal rettet Paul unter Lebensgefahr einen verletzten Soldaten. Oder er versorgt in einem schlecht ausgestatteten Krankenhaus ein Mädchen mit starken Verbrennungen. Ein anderes Mal muss er die Gedärme eines durch eine Explosion zerrissenen Toten in den Bauchraum zurückbefördern, damit der Arzt die Leichenschau durchführen kann. Wie in einem Tarantino-Film kommt er sich vor, als ein Hubschrauber Verletzte eines Transportpanzers bringt, der sich während eines Feuergefechts überschlagen hat.
Wer sich über den Krieg in Afghanistan informieren will, wird trotzdem nicht unbedingt zu diesem Roman greifen. Die Schönheit der Landschaft, der Reichtum von Flora und Fauna sind für seine Komposition bedeutsamer. In Pauls Blick verschmelzen Sehnsucht und Naturkunde. Mit Kaffeesud zeichnet er die verschiedenen Vogelarten, nuanciert allein durch die Schattierung von Brauntönen, die sich durch die unterschiedliche Häufigkeit des Auftragens der Schichten ergibt. Die ungeheure Dichte, die sich überraschenderweise mit Leichtigkeit paart, macht die eigentliche Qualität des Romans aus. Sie lässt sowohl den Lyriker als auch den Erzähler erkennen und nicht zuletzt den Techniker. Nobert Scheuer hat Physikalische Technik und Philosophie studiert und arbeitet auch als Systemprogrammierer. Den Vogelflug und die vielen Vogelarten Afghanistans scheint er nicht nur erkundet zu haben, um sie zu beschreiben. Er hat sie auch auf die Bauweise seines Romans übertragen. „Die Sprache der Vögel“ ist so filigran konstruiert wie eine Vogelfeder, bei der Schönheit und Funktionalität zusammenspielen.
Nachts büxt der Held aus dem Lager aus, um einen See zu suchen.
Alles wirkt, als wäre es nur skizziert, und ist dabei doch unendlich vielschichtig. Die Figuren werden mit wenigen Pinselstrichen kenntlich und sind mit feinen Fäden verbunden. So stammt Julian, einer seiner Stubengenossen, aus Kall, wo er im Kinderheim aufwuchs. Bei der Bundeswehr sieht er seine einzige Karriere-Chance. Umso erboster ist er, als Paul seine „fixe Idee“ in die Tat umsetzt, zu einem nahen See zu kommen. Ihn fasziniert dessen schillernde Farbe, er vermutet dort besondere Vögel, außerdem erinnert ihn der See an das Maar, in dem er mit seiner früheren Freundin Theresa badete. Weil er keine Genehmigung bekommt, das Lager zu verlassen, büxt er nachts heimlich aus. Julian fürchtet, die Mitwisserschaft könne ihn seine Karriere kosten.
Trotzdem wird er gleichsam zum Boten, der dafür sorgt, dass Pauls Notizen in die Hände von dessen früherer Lehrerin gelangen. Während eines Heimaturlaubs trifft er im Krankenhaus zufällig auf Helena, die sich einer Chemotherapie unterziehen muss. Da ihr Mann sie wegen eines Sturms nicht abholen kann, fährt Julian sie nach Hause, nicht ohne einen Umweg über ein altes Militärgelände in einem aufgelassenen Bergwerk, das er ihr zeigen will. Die Eifel-Landschaft und die Landschaft Afghanistans legt Scheuer wie zwei Landkarten übereinander. Auch dürfte die Größe des Feldlagers ungefähr der Größe eines Dorfs entsprechen.
Exakte Konstruktion und magisches Denken
Helena hält den Ariadne-Faden in der Hand, der uns durch die labyrinthische Konstruktion des Buches führt. Sie breitet die im Regen feucht gewordenen und durch eine Sturmböe durcheinandergeratenen Blätter im Dachzimmer ihres Hauses aus. So wird es zum „Geschichtenzimmer“. Bis alle Blätter untergekommen sind, fürchtet sie fast panisch, der Raum könne nicht reichen und ihr werde womöglich etwas von den vielfältigen „Beziehungen zwischen den Dingen und den Vorstellungen“ in Pauls Notizen entgehen. Doch alles passt genau. Auch sie selbst kommt gerade noch unter. Exakte Konstruktion und magisches Denken gehen in diesem Roman auf wundersame Weise Hand in Hand. Die zahllosen Analogiebildungen sind wie ein Zaubertrick, der die vielen Geschichten zusammenhält.
Im Prinzip kann hier ständig alles mit allem in Beziehung geraten. Da ähnelt etwa Nassim, ein afghanischer Student, der im Lager arbeitet und mit dem sich Paul anfreundet, seinem besten Freund aus Kall. Seit einem Autounfall, bei dem Paul am Steuer saß, ist Jan geistig behindert. Als Paul am Telefon von dessen Tod erfährt, packt ihn die Verzweiflung. Ziellos irrt er durch Afghanistan, bis er von Amerikanern gefunden wird, die ihn zunächst für einen Taliban halten. Es bleibt offen, ob er nach Kall zurückkehrt oder bei einer Bombenexplosion ums Leben kommt. Und offen bleibt auch, ob sein Urahn Ambrosius Arimond, von dessen Reise durch das Gebiet des heutigen Afghanistan im 18. Jahrhundert der Roman ebenfalls erzählt – und damit ein vom Krieg unberührtes Arkadien erschafft – wirklich dort war. Vielleicht hat Pauls Vater die ganze Geschichte erfunden, bevor er mit einer speziellen Hochsprung-Technik das Geländer überwand, das man auf einer Autobahnbrücke gegen Selbstmörder errichtet hat. Die Affären der Mutter hielt er nicht mehr aus.
„Man wäre nicht normal, wenn man hier nicht irgendwann verrückt würde“, sagt ein Soldat über Afghanistan. Dort wird mit Drohnen gemordet, den wohl abscheulichsten Flugapparaten, die der Mensch ersonnen hat. Selbst der Informationsoffizier, der sie losschickt, wird irre daran. „Die Sprache der Vögel“ feiert die Kraft der Fantasie, ohne die Technik als deren grausame Anwendung bedenken zu wollen. Die naturkundlichen Studien verbergen diese blinde Stelle mit schöner Verve. Es ist nicht die intellektuelle oder politische Konsequenz, die für diesen Roman einnimmt. Es ist sein enormes poetisches Geschick.
Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel. Roman. C. H. Beck Verlag, München 2015. 240 S. mit zahlreichen Illustrationen, 18,95 €.
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