Paris nach den Anschlägen: Flanieren in Zeiten des Terrors
Der Flaneur gehört zu Paris wie zu keiner anderen Stadt. Wird die Erinnerung an den Terror nun unser entspanntes Leben in den Städten verändern? Eine Kolumne.
Der Flaneur gehört als Ikone ebenso zur Stadt wie die Litfasssäule, das öffentliche Pissoir und die Straßenlaternen. Ein einsamer Forschungsreisender, der sich die Zeit gönnt, sich die Zeit zu nehmen: ein seltsamer Vogel in unserer sich im Turbomodus drehenden Zeit. Der Flaneur – ein nicht übersetzbares Wort. Dem Spaziergänger fehlt die Nonchalance, das unendliche Vergnügen des ziellosen und ungezwungenen Sich-Treiben-Lassens, bei dem die Augen ganz damit beschäftigt sind, die kreisende Welt eingehend zu betrachten und zu interpretieren.
Der Flaneur lässt sich von der Stadt tragen und beobachtet, was sich da unter der Oberfläche abspielt, er versucht, dem Geschehen einen Sinn zu geben. In erster Linie ist er ein Voyeur, er studiert die Gesichter und die Fassaden, belauscht die Gespräche, lässt sich die Gerüche in die Nase steigen, begrüßt das unwesentlichste Ereignis auf dem Bürgersteig wie ein kleines Wunder. Jedes noch so winzige Bruchstück des Lebens interessiert ihn. Sehr häufig hat er ein Notizbuch in der Tasche, und von Zeit zu Zeit bleibt er stehen, um einen Gedanken zu notieren, einen flüchtigen Moment festzuhalten. Den Flaneur verbindet nichts mit dem Touristen, der danach jagt, Pittoreskes oder Kultur so schnell wie möglich zu konsumieren. Er ist nicht gierig. Er weiß, wie man sich vom urbanen Leben überraschen lässt, wie man es goutiert und genießt. Balzac nannte ihn so hübsch „le gastronome de l’œil“, den Feinschmecker des Auges.
Die Entfernungen sind nicht so riesig wie in Berlin oder London
Der Flaneur wurde im 19. Jahrhundert in den Straßen von Paris geboren. Paris ist für diese sanfte Bewegung von Körper und Geist prädestiniert. Kompakt und verdichtet, wie es ist, kann man die Innenstadt leicht zu Fuß durchqueren. Die Entfernungen sind nicht so riesig wie in Berlin oder London. Und die großen Boulevards sind für die Lieblingsbeschäftigung des Flaneurs wie geschaffen. Früher sprach man vom boulevardier, ein heute verschwundenes Wort, das seine Vorliebe für diese breiten und von hohen Gebäuden gesäumten Straßen à la française gut zum Ausdruck bringt. Spazierengehen in den Straßen von Paris ist eine wahre Inspirationsquelle. Baudelaire und Walter Benjamin für die E-Kultur. Aber wie viele Chansonniers beherrschen die niedere Kunst des Ohrwurms. Yves Montand mit seinem „J’aime flâner sur les grands boulevards, y’a tant de choses, tant de choses à voir“: „Ich flaniere so gern über die großen Boulevards. Da gibt es so viel, so viel zu sehen.“ Und Joe Dassin mit seinem berühmten „Aux Champs Elysées, je m’baladais sur l’avenue le cœur ouvert à l’inconnu“: „Auf den Champs Elysées bummelte ich, mein Herz war offen für das Unbekannte."
Doch haben die Attentate vom 13. November den sorglosen Weg des Flaneurs nicht abgeschnitten? Wird diese traumatische Erinnerung unser entspanntes Leben in den Städten verändern? Werden wir noch durch unsere Straßen bummeln können, trägen Schrittes, geistesabwesend, in Träumereien verloren? Oder werden wir, misstrauisch und verschreckt wie gejagte Tiere, mit gespitzten Ohren auf jede Bewegung in der Menge achtgeben, auf jeden dubiosen Passanten, immer wachsam, immer auf der Hut, verkrampft und alarmiert?
Werden wir uns von nun an mit schnellen Schritten fortbewegen?
Ich frage mich, wie sich mein nächster Besuch in Paris abspielen wird. Werde ich es wagen, von Saint Germain ins Marais zu spazieren, eine Stunde auf einem Stuhl am Wasserbecken im Jardin du Luxembourg zu verbringen und meine Blicke über die Terrassen schweifen zu lassen? Werde ich es wagen, in meinem Lieblingscafé gegenüber dem schmiedeeisernen Gitter zu sitzen, an Notre Dame vorbeizugehen und darüber zu staunen, wie geduldig die Touristen vor der Turmbesteigung Schlange stehen? Werde ich es wagen, die Ile de la Cité zu überqueren, in der Rue des Rosiers etwas im Stehen zu trinken und schließlich auf die Place de la République zu gelangen? Meine ritualisierte flânerie nach der Ankunft in Paris. So erobere ich mir meine Hauptstadt zurück, diese wimmelnde Metropole, kosmopolitisch, laut und unbegreiflich schön. Nach Wochen der Trennung finden wir zu unserer Intimität zurück.
Wird es in einiger Zeit möglich sein, nicht mehr an den Ausbruch unerhörter Gewalt in dem vertrauten Dekor zu denken? Werden wir Flâneure noch leichten Herzens durch die Städte wandern können? Oder werden wir uns von nun an mit schnellen Schritten voranbewegen und uns mit der Angst im Bauch nervös umschauen, bevor wir uns in bestimmte Straßen wagen? Der Flaneur muss sich treiben lassen können, ohne allzu sehr über seine Flugbahn nachzudenken, er muss den Zufällen der Straße langsam folgen können. Denn vor allem anderen steht er im Dienst der Freiheit.
Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.