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Über Zeichentische gebeugte Männer und ihre kuriosen Ideen: Eine Seite aus "Vom Glanz der alten Tage".
© Edition 52

Seth: „Vom Glanz der alten Tage“: Finder der verlorenen Zeit

Inuit im Weltall, Mounties auf Roboterpferden - der kanadische Zeichner Seth entführt in „Vom Glanz der alten Tage“ in eine schrullige Parallelwelt und ergründet spielerisch Glanz und Elend der Comic-Geschichte.

Seth ist der große Nostalgiker unter Nordamerikas Comic-Künstlern. Aber weil dem inzwischen 51-jährigen Zeichner und Autor sehr wohl bewusst ist, dass die gute alte Zeit in Wirklichkeit oft gar nicht so gut war, arbeitet er seit bald 25 Jahren an einem sepiafarbenen Paralleluniversum. In dem begannen die Uhren irgendwann ab Mitte des 20. Jahrhunderts langsamer zu laufen, viele unangenehme Nebenerscheinungen der Moderne traten höchstens in abgemilderter Form auf. Seths von kauzigen Charakteren bevölkerte Welt, die er in der Serie „Palookaville“ sowie sporadischen Einzelbüchern mit feinstem Stilgefühl fortentwickelt, besteht zum einen aus einer idealisierten Retro-Version seiner einstigen Heimatstadt Toronto, zum anderen aus der fiktiven Kleinstadt Dominion City, die an Seths heutigen Wohnort erinnert, das Studentenstädtchen Guelph in Süd-Ontario.

Ein Zeichner-Archiv in Iglu-Form

Die Figuren, die sich in Dominion City tummeln, sind schrullig und nicht immer sympathisch. Aber sie erwecken dank Seths sensibler Erzählkunst doch das Mitgefühl der Leser. Das gilt vor allem für den gierigen Comicsammler Wimbledon Green und den abgehalfterten Fernsehmoderator George Sprott, denen jeweils ein Buch gewidmet ist.

Nun führt die kürzlich auf Deutsch veröffentlichte Erzählung „Vom Glanz der alten Tage“ in eine zentrale Institution Dominions ein: die „Great Northern Brotherhood of Canadian Cartoonists“. Diese Bruderschaft der kanadischen Comiczeichner, so macht Seth uns glauben, war einst eine der Säulen des gesellschaftlichen Lebens der Stadt, ihr Vereinsheim über Jahrzehnte ein kulturelles Zentrum Kanadas.

Auf gut 130 Seiten breitet der Autor die größtenteils frei erfundene und doch mit vielen Bezügen zur Realität durchsetzte Geschichte der kanadischen Bilderzählung aus, die angeblich 250 Jahre umspannt. In einem skizzenhaft wirkenden Stil, der an alte Zeitungsstrips erinnert, werden die Biografien imaginärer Figuren mit denen realer Zeichner wie Chester Brown oder Doug Wright zu einem amüsanten Kuriositätenkabinett vermischt.

Seth erzählt auf formal strengen Neun-Panel-Seiten und mit elegant fließendem Strich von lebenslang über Zeichentische gebeugten Männern und ihren kuriosen Ideen: Inuit im Weltall, Mounties auf Roboterpferden, neufundländische Akkordeoncomics und immer wieder Abenteuer in den endlosen Weiten des Nordens. Diesen Geschichten und ihren Erfindern huldigen Comic-Pavillons auf der Weltausstellung und ein gigantisches Zeichner-Archiv im Norden Kanadas in Iglu-Form.

Trotz des humoristischen Grundtons ist das Buch auch eine tiefgründige Auseinandersetzung damit, was den Comic besonders macht – und wieso er es so schwer hat, als Kunstform anerkannt zu werden. Das ist mit liebevollen Details ausgeschmückt, aber dank Seths Fähigkeit zur Selbstironie gleitet es nicht in Kitsch ab, auch wenn man zwischendurch meint, den Autor seufzen zu hören.

Verschworene Gemeinschaft: Das Cover zeigt einige Figuren aus der - größtenteils fiktiven - Blütezeit des kanadischen Comics.
Verschworene Gemeinschaft: Das Cover zeigt einige Figuren aus der - größtenteils fiktiven - Blütezeit des kanadischen Comics.
© Edition 52

So sähe also die Welt aus, wenn man gezeichnete Bildgeschichten von Anfang an wie Literatur oder bildende Kunst wertgeschätzt hätte? Schön und gut. Aber da, wo der Comic jetzt steht, geht’s ihm eigentlich auch ganz gut – dank Künstlern wie Seth.

Seth: Vom Glanz der alten Tage, Edition 52, 130 Seiten, 25 Euro. Eine kurze Leseprobe gibt es hier.

Zu Besuch bei Seth: Vor einigen Jahren empfing der kanadische Zeichner den Tagesspiegel bei sich zu Hause, den Bericht von damals können Sie hier nachlesen.

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