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Reisebekanntschaft. Yuliya (Olga Dobrina) und Rimma (Leisan Sitdikowa).
© filmkinotext

Russisches Kino: Feuer, Wasser, Erde, Lust

Andrej Tarkowski ist lange tot. Aber in dem Regisseur Alexej Fedorchenko hat er einen Wiedergänger, mit ähnlichem Sinn für extreme Gedankenwelten und große Tableaus. Schönes Beispiel, frisch im Kino: das Roadmovie "Stille Seelen".

Als der wundersame Film, der nun wunderbarerweise ins Kino kommt, vor zwei Jahren in Venedig Premiere feierte, da ging das Rätselraten gleich nach der Vorstellung los. Dieses vor Jahrhunderten irgendwo im westlichen Zentralrussland untergegangene Volk der Merja offenbar finno-ugrischen Ursprungs, von dessen eigentümlichen Riten Aleksei Fedorchenko in „Stille Seelen“ erzählt – sollte es nur eine weitere Ausgeburt der Fantasie eines auf irrlichternde Irreführungen spezialisierten Regisseurs sein?

Indizien gab es genug. Zunächst Fedorchenkos Erstling „Pervye na lune“ (Erster auf dem Mond, 2005), der getreulich von einer einst geheim gehaltenen Mondlandung der Sowjets 1938 berichtete und sich als mockumentary erwies. Und dann die sonderbaren Traditionen der Merja selbst: Brautjungfern flechten den Bräuten bunte Fäden ins Schamhaar, und anderntags bindet der Bräutigam diese Fäden an Erlenzweige. Oder: Tote erfahren keine letzte Ölung, sondern eine letzte Waschung – in Wodka. Oder: Zwischen Tod und Bestattung einer Geliebten lindert der Partner seine Trauer, indem er offen über intime Freuden des vergangenen Liebeslebens spricht.

All solches geschieht in „Stille Seelen“, Fedorchenkos drittem Film, und geschildert wird es mit nahezu ethnografischer Nüchternheit. Tanja (Yuliya Aug) ist gestorben, und ihr Mann Miron (Yuri Tsurilo), Direktor einer tief in der Taiga gelegenen Papierfabrik, schafft die Leiche gemeinsam mit dem Freund und Mitarbeiter Aist (Igor Sergejev) im eigenen Auto fort aus der kleinen Stadt. „Ich bringe sie nicht in die Leichenhalle“, sagt Miron – und so begleiten die beiden Männer die in eine Wolldecke gewickelte Tote, um sie alsbald auf einem aus unterwegs erworbenen Axtstielen geschichteten Scheiterhaufen am Ufer eines Flusses zu verbrennen und ihre Asche ins Wasser zu streuen.

Auch dies eine Tradition der Merja, wer wollte nun noch daran zweifeln, und es ist Aist, der angestellte Fabrikarbeiter-Fotograf und Voice-Over-Chronist, der davon in aller Stimmenseelenruhe erzählt. Durch ein unendlich sich erneuerndes Novembergrau führt dieses Roadmovie in Cinemascope, von Neja – der Ort existiert tatsächlich, ohne Fernstraßen, aber mit Bahnhof an der Transsibirischen Eisenbahn – nach Gorbatov, über Pontonbrücken und leere Betonpisten, bis das große Feuer am Fluss auflodert. Und in immer tiefere Dimensionen des Abschieds windet sich die Reise, so reichhaltig beraunt wie lakonisch bebildert, und irgendwann macht ein Deus ex Machina, oder ist es ein Teufelchen, nach einem letzten Zwischendurchglück dem schönen Spuk ein Ende.

Der große Tarkowski ist lange tot, aber Fedorchenko lebt, und immer wieder finden er und sein Kameramann Mikhail Krichman fantastische Augenblicke des Stillstands, die einem in die Träume hinübergeistern. Und die Merja? Es hat sie gegeben. Womöglich finden sich ihre Nachkommen in den Hunderttausenden von Mari zwischen Nischni Nowgorod und Kasan, die sich manchmal noch Merjanen nennen – und in ihrer seit 1992 bestehenden autonomen Teilrepublik Mari-El, die ihre Kultur und Sprache nur mit Mühe gegen die russische Dominanz behauptet. Man kann das nachlesen etwa auf der Website der Gesellschaft für bedrohte Völker. Aber das führt in einen anderen Film, er heißt Wirklichkeit.

In Berlin in den Kinos Krokodil,

b-ware! ladenkino, Central (alle OmU)

Jan Schulz-Ojala

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