Literatur: Ferdinand von Schirach: Das Recht ist anderswo
Verbrechen ohne Strafe: Am Montag erscheint Ferdinand von Schirachs Erzählband "Schuld".
Zu lachen gibt es in diesem Buch nur sehr wenig, und doch scheint der Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach seinen Humor beim Schreiben nicht verloren zu haben. Zumindest legt das die kurze Geschichte von Fabian Kalkmann nahe, mit der von Schirach seine heute erscheinende Erzählsammlung „Schuld“ beschließt. Kalkmann sucht von Schirach zwei Wochen lang täglich in dessen Anwaltskanzlei auf und berichtet ihm stets aufs Neue, dass er von der CIA, dem BND und einigen anderen verfolgt werde. Ein Fall nicht für einen Anwalt, sondern für die Psychiatrie. Dahin bringt von Schirach den Mann dann auch, was dieser ohne Murren akzeptiert. Das Aufnahmegespräch mit einem jungen Arzt beginnt Kalkmann mit dem Satz: „Guten Tag, ich heiße Ferdinand von Schirach, ich bin Rechtsanwalt“. Und dann zeigt er auf von Schirach und sagt: „Ich bringe Ihnen hier Herrn Kalkmann. Ich vermute, er hat einen schweren Defekt.“
Diese Geschichte ist natürlich lustig. Sie zeigt nebenher aber auch, wie schwer es mitunter sein kann zwischen „normal“ und „verrückt“ zu unterscheiden, zwischen „gesund“ und „pathologisch“. Wie wirkt Ferdinand von Schirach eigentlich auf Fabian Kalkmann? Hat sich Kalkmann nur einen Spaß erlaubt? Und was treibt einen Anwalt dazu, nach seinem überraschend zum Bestseller gewordenen Debüt-Erzählband „Verbrechen“ ein weiteres Buch mit Geschichten vorzulegen, die von der Schwierigkeit handeln, zwischen Schuld und Unschuld zu unterscheiden?
Die Eingangsgeschichte „Volksfest“ trägt fast programmatische Züge: Von Schirach erzählt von einer jungen Frau, die von neun Mitgliedern einer Blaskapelle vergewaltigt wird. Mit einem Kollegen übernimmt von Schirach den Fall, verteidigt die Musiker und bewahrt sie vor dem Gefängnis. Von Schirach weiß, dass sie schuldig sind und verliert selbst seine Unschuld. Schuld bemisst sich nicht immer nach den Buchstaben des Gesetzes, und schuldig sind manchmal auch die Menschen, die gar keine Verbrechen begangen haben. Oder die einen anderen Menschen aus niederen Beweggründen eines Verbrechens beschuldigen.
So wie das acht Jahre alte Mädchen, das aussagt, der Mann ihrer Lehrerin habe sie sexuell missbraucht, und damit dessen Leben zerstört. Der Mann, ein Vertreter für Büromöbel, wird verurteilt, muss ins Gefängnis und schweigt. Zehn Jahre später, er verdient sich inzwischen als Werbezettelverteiler seinen Lebensunterhalt, trifft er das Mädchen zufällig wieder. Er will sie umbringen – „er glaubte, er habe jedes Recht“, schreibt von Schirach –, kann es aber nicht. Es stellt sich heraus, dass der Missbrauchsvorwurf des Mädchens nur ihrer Fantasie entsprang, aber einer gezielten: Sie war eifersüchtig, sie wollte ihre Lehrerin für sich allein haben. Der Mann musste ein völlig neues Leben beginnen, das erfährt von Schirach von ihm. Aber wie lebt das vermeintlich unschuldige Mädchen mit seiner Schuld? Darüber schweigt Ferdinand von Schirach sich aus. Einem Urteil, einem Kommentar entzieht er sich hier genauso wie in allen anderen Geschichten, das überlässt er lieber dem Leser. Der Anwalt erzählt nach, beschreibt, bildet ab.
Was er gleichfalls vermeidet: das Innenleben seiner Protagonisten zu erforschen, ihre Perspektive zu übernehmen, den Versuch zu machen, ihre Beweggründe zu analysieren. „Die Dinge sind, wie sie sind“, zitiert er eingangs Aristoteles und erkennt, nachdem er als Berufsanfänger selber oben genannte Volksfestmusiker und Biedermänner erfolgreich verteidigt hat: „Wir wussten, dass die Dinge nie wieder einfach sein würden“.
Tatsächlich ist in diesen Geschichten nichts einfach. Nicht für das Ehepaar, das zu einem Swingerpärchen wird, dem irgendwann aber doch ein anderer Mann und Sympathien über den Sex hinaus in die Quere kommen. Nicht für die Polizei, die einen Mann aus Polen mit einem Koffer voller Fotos von gepfählten Leichen aufgreift, was aber per se noch keinen Strafbestand darstellt; nach seiner Entlassung wird der Mann ermordet, der Fall bleibt ungeklärt. Und nicht für von Schirach selbst, der eine Frau verteidigt, die von ihrem Ehemann brutalst gequält wird – und nach dem vermeintlich von ihr verübten Mord an ihrem Mann freigesprochen.
Manchmal sind von Schirachs Geschichten so verschlungen, so irr, dass sie eigentlich nur ausgedacht sein können. So wie die mit den beiden Drogenkurieren, ihrem Maserati und ihrem Hund, der erst einen Schließfachschlüssel verschluckt und nach einer Ladung Abführmittel den Maserati vollmacht (was schon komisch ist, das Lachen bleibt einem aber immer wieder im Hals stecken). Doch basiert in diesem Buch alles auf realen Fällen aus der Anwaltstätigkeit des Autors, die er nicht zuletzt aus Gründen der Schweigeplicht literarisierte.
Der Reiz des Buches besteht in seiner Authentizität. Und darin, dass von Schirach keine Urteile fällt, die Fragen nach Gut oder Böse offen lässt. Doch auch wie er das stilistisch macht, kann sich sehen lassen. Er geht sparsam mit den Worten um, seine Sätze sind kurz, nüchtern, kommen ohne Schnickschnack aus, was häufig im krassen Gegensatz zu den Verbrechensfällen steht. Das ist besonders wirksam, weil von Schirach durchaus gezielt auf manchen schmissigen Effekt aus ist; in der schnellen Abfolge bekommt das manchmal etwas Gesuchtes.
Ergriffen ist man als Leser trotzdem immer. Und lange bevor Fabian Kalkmann sich als Ferdinand von Schirach ausgibt, weiß man, wie schmal der Grat ist zwischen Schuld und Unschuld. Wie schnell wir in Verbrechen verstrickt werden können, ohne zu wissen, dass es sich überhaupt um solche handelt.
Ferdinand von Schirach: Schuld. Stories. Piper Verlag, München 2010. 204 Seiten, 17, 95 €.
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