Kultur: Fenster auf, frische Luft
Ein Europäer in Polen: Lobrede auf Andrzej Wajda /Von Peter W. Jansen
Der polnische Regisseur Andrzej Wajda wurde gestern Abend im Kino International mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet, im Anschluss lief sein Film „Pilatus und andere – Ein Film für Karfreitag“ von 1972. Wajda, einer der bedeutendsten Regisseure der Gegenwart, drehte Filme wie „Asche und Diamant“ (1958) und „Der Mann aus Marmor“ (1977). Er wird am 6. März 80 Jahre alt. Der Filmpublizist Peter W. Jansen, der mit Wajda 1999 in der Berlinale-Jury saß, hielt diese Lobrede am Vorabend im Kaisersaal beim Ehren-Dinner für den Regisseur. (Tsp)
* * *
Andrzej Wajda gehört für mich zu den Augenöffnern. In seinen Filmen habe ich das Sehen gelernt, und dafür bin ich ihm immer dankbar. Andrzej Wajda, Andrzej Munk, Jerzy Kawalerowicz: Das waren die drei Sterne aus dem Osten, die meinen deutschen Cineastenbrüdern und Cineastenschwestern leuchteten in der finsteren Nacht, in der damals noch das deutsche Kino lag.
Damals, als es hier noch bis zur Insolvenz mutige Verleiher gab und ein Fernsehen, das sich noch nicht darum bemühte, Filme fremder Regisseure tief in die Nacht zu verfrachten. Wir haben „Asche und Diamant“ zum Beispiel oder „Kanal“ in ganz normalen Kinos oder zur so genannten Primetime auf dem Bildschirm kennen gelernt. Doch dann immer mehr nur auf Festivals. Meine Kladden aus Cannes und von der Berlinale nennen mindestens ein Dutzend Wajda-Filme.
Am Ende eines der polnischen Filme aus jener Zeit und am Ende einer längeren Auseinandersetzung, bei der mehrere Dutzend Zigaretten geraucht worden waren, und ich glaube: Es ist früher Morgen, am Ende des Films also steht jemand auf und öffnet ein Fenster, um den Rauch raus und frische Luft rein zu lassen. Wir haben das damals so zeichenhaft verstanden, wie es sicher auch gemeint war: Frische Luft sollte die verqualmten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse durchlüften. Es war nicht nur ein Aufatmen, es war das Atmen schlechthin.
Fenster haben es so an sich, dass sie die Grenze zwischen Innen und Außen aufheben. So öffnete sich das junge polnische Kino für Europa, und es öffnete sich nach Europa hin. Und das Jahrzehnte vor Erfindung der EU, ein halbes Jahrhundert vor der Ost-Erweiterung. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das damals so deutlich empfunden haben, wie ich es jetzt sage. Aber eines war unübersehbar: Was da in Polen entstand, das war europäisches, ur-europäisches Kino. Es war europäisch, wie Rossellini und de Sica nicht nur italienisch, wie Rivette, Rohmer, Godard, Truffaut, Chabrol, Louis Malle nicht nur französisch, sondern europäisch waren. Oder wie Zoltán Fábri nicht nur ungarisch, Forman, Menzel, Jakubisko nicht nur tschechisch und slowakisch sowie das New British Cinema nicht nur englisch ist.
Das europäische Kino jener Jahre war Europa um Jahrzehnte voraus. Ich erinnere nur an den Aufbruch des Kinos der damaligen CSSR, das von einer lahmen, einer lahmarschigen Politik genauso zurückgepfiffen wurde, wie zum Beispiel der DEFA-Jahrgang 1966, der für viele Jahre in den Regalen verschwand und dabei weder verstaubte noch Rost ansetzte.
Das europäische Kino jener Jahre drängte sich nicht danach, amerikanisch auszusehen. Wir liebten und lieben das amerikanische Kino, ja, wir liebten Hawks, Ford, Aldrich, Sturges, Huston, Hitchcock. Aber wir liebten es als amerikanisches Kino, wie unsere französischen Freunde – denen wir viel von der Liebe zum amerikanischen Kino verdankten – die Filme aus Hollywood liebten, ohne Hollywood nachmachen zu wollen.
Die Filmgeschichte hat ein anderes Tempo als alle andere Geschichte. Sie läuft einfach schneller, vielleicht weil das Kino 24 Bilder in der Sekunde verbraucht und das Fernsehen 25. Die Hoch-Zeiten sind sehr kurz in der Filmgeschichte; es vergehen meistens nur ein paar Jahre zwischen Aufbruch und Niedergang einer Epoche. Aber auf jede Nouvelle Vague folgt eine neue Welle, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, ob in Europa oder Asien, ob in Lateinamerika oder Afrika. Der Film hat immer wieder und immer noch die Kraft zu seiner eigenen Wiedergeburt. So lange das so ist – und ich sehe keinen Grund, warum es damit zu Ende gehen sollte –, wird es auch das Kino geben. Über alle Veränderungen hinweg. Weil die Veränderungen ein Kennzeichen des Kinos sind. Weil das Kino von den Veränderungen lebt.
Sechs Jahre ist es nun her, dass ich die Ehre hatte, in der Internationalen Jury der Berlinale unter Präsidentin Gong Li auch mit Andrzej Wajda zu debattieren. Ich erinnere mich, wie vehement er für seine Favoriten stritt. Es konnte geschehen, dass es ihn dabei nicht auf seinem Stuhl hielt. Für seine wichtigen Ausführungen stand er auf, um wie ein Anwalt zu plädieren. Und dann tat er etwas, was jetzt auch ich tun werde. Er setzte sich wieder hin.
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