Daniel Kehlmanns Roman "F": F wie vielleicht
Daniel Kehlmann jongliert in seinem neuen Roman "F" mit den ganz großen Fragen nach Schicksal, Zufall und Notwendigkeit. Aber in den philosophischen Regionen, in die er aufgebrochen ist, wird die Luft schnell dünn.
Was Literatur ausmacht, wird von keiner offiziellen Verordnung geregelt. Anders als im gemeinen Lebensmittelrecht existieren weder Reinheitsgebote noch Kataloge freigegebener Zusatzstoffe. Jedes gute Buch entwirft die Kriterien, an denen es gemessen werden muss, aus sich selbst heraus – wenn auch nicht jedes Mal von neuem. Daniel Kehlmanns Roman „F“ zum Beispiel ist in vieler Hinsicht eine verbesserte Ausgabe seines Geschichtenreigens „Ruhm“, mit dem er vor vier Jahren seine metafiktionalen Spiegelkabinette öffnete: noch virtuoser in der selbstbezüglichen Verschränkung seiner Motive – und noch ehrgeiziger in seinen metaphysischen Spekulationen.
Die Mühen haben indes zu keiner Einbuße an Leichtigkeit geführt. Im Hinblick auf das gedankliche Raffinement und die konstruktive Kühnheit ragt „F“ turmhoch über das meiste hinaus, was Kehlmanns deutschsprachige Generationsgenossen sonst zuwege bringen. Der Roman lebt von einem beweglichen Intellekt, einer im Wortsinn fantastischen Imaginationskraft und einwandfreiem Handwerk. Sprachlich sitzt hier alles, hat Rhythmus und Schwung – und überdies den Anspruch, dass jeder, der den Strukturen und Details wirklich auf die Schliche kommen will, das Buch mindestens zweimal lesen muss.
„F“ ist ein großer Spaß, doch auch ein Experiment, dessen Risiken durch die Übererfüllung aller erdenklichen Qualitäten zunächst verborgen bleiben. Das Literarische quillt ihm derart aus sämtlichen Poren, dass man leicht übersieht, wie dünn die Luft in den Regionen ist, in die es hinaus will, und wie wenige dort reüssieren. Denn das Buch stellt nicht nur die alten Fragen nach Schicksal, Zufall und Notwendigkeit in einem ebenso archaischen wie zeitgenössischen Kontext, es versucht auch, sie in einem genuin literarischen Sinn fruchtbar zu machen.
F wie Fatum. F wie Familie. F wie Fiktion. F wie Fälschung. Oder F wie F, die mit einem einsamen Initial benannte Figur aus Arthur Friedlands imaginärem Roman „Mein Name sei Niemand“, der wiederum Kehlmanns „F“ grundiert und durchdringt: eines der vielen Beispiele für eine Technik der mise-en-abyme, bei der die Darstellung sich selbst als Teil des Dargestellten enthält. Das sind die wichtigsten Bedeutungsnuancen des Titels, in dessen Horizont Kehlmann Arthur Friedland, einen erst spät im Leben von einem Hypnotiseur namens Lindemann zu einem produktiven Schriftstellerdasein befreiten Vater und seine drei Söhne auftreten lässt.
Heuchler und Schwindler sind sie alle: Arthur durch seinen langjährigen Selbstbetrug. Martin, ein fresssüchtiger katholischer Priester, dadurch, dass er unfähig ist, an Gott zu glauben, und zugeben muss, dass ihm – waren es dunkle Kräfte? – gegenüber einem lästigen Bettler auch schon mal der Fuß ausgerutscht ist. Und seine jüngeren, in ihrer Polarität zuweilen scheinbar verschmelzenden Zwillingsbrüder Iwan und Eric. Dieser ein medikamentensüchtiger Finanzberater mit diabolischen Visionen, promisker Lebensart und räuberischer Gesinnung am Rand des finanziellen Abgrunds. Jener ein schwuler Kunsthistoriker, der über ästhetische Mediokrität zu promovieren gedenkt, sein Talent dann aber darauf verwendet, für seinen Geliebten, den wenig begabten Maler Heinrich Eulenböck, ein Aufsehen erregendes Frühwerk anzufertigen und mithilfe des vermeintlich neu entdeckten Meisters, der zumindest kraft seines genialen Charismas dazu noch ein paar verbale Provokationen spendiert, gewinnträchtig zu vermarkten.
{Die Vorbilder: Thomas Mann, J.M. Coetzee oder John Burnside}
Kehlmann widmet sich der Reihe nach ihren persönlichen Welten, nicht ohne zwischen ihnen Durchblicke zu schaffen, die sich erst im Lauf der Lektüre erschließen. So kann man Eric im Beichtstuhl seines Bruders Martin treffen, der den Besucher aber so wenig erkennt, wie er später nicht begreift, dass der Mord, der ihm dort gestanden wird, an seinem Bruder Iwan verübt wurde. Taub und blind für das seinerseits blinde Schicksal, erteilt er beiden die Absolution. Welcher Irrwitz hier und im auseinanderstrebenden Ganzen waltet, spottet jeder Ordnung. Rubiks Würfel, dessen gegeneinander verschobene Farbflächen der Priester Martin in Wettkämpfen gerne zurechtrückt, ist ein völlig unzureichendes Symbol für eine auf immer aus dem Lot geratene Schöpfung. Ein Trost in der Hand des Menschen, dem nichts Wirkliches entspricht.
Die Zeichen, Zuschreibungen und Andeutungen wandern quer durch den Text, gesellen sich mal zu dem einen und mal zu dem anderen, und am Ende wird der unheilige Eric, der einmal sogar dem Leibhaftigen begegnet, zum Katholizismus konvertiert sein, wenn denn eine klare Chronologie auszumachen wäre. Keine Erzählebene ist letztlich wirklicher als die andere – vielleicht ist dies schon die bodenlose Hölle, die durch die Allgegenwart einer unerträglichen Hitze beschworen wird. Daniel Kehlmann hat wenig Sinn für Sentiment, dafür umso mehr für Sarkasmus. Sein Theater der Grausamkeiten ist der Austragungsort eines intellektuellen Wettstreits, bei dem alle Parteien das Nachsehen haben.
Die literarischen Bezugspunkte sind dabei die Ideenromane von Thomas Mann, vom „Zauberberg“ bis zum „Doktor Faustus“, auch wenn die unmittelbar stoffliche, das Problem der Willensfreiheit betreffende Anspielung in der Erzählung „Mario und der Zauberer“ liegt. Es sind die fiktionalitätsbewussten Labyrinthe von Roberto Bolaño, die ethischen Versuchsanordnungen von J. M. Coetzee, wie sie „Elizabeth Costello“ vorführt, und die hermeneutischen Ungewissheitszonen von John Burnside. Was Literatur, die so hoch hinaus will, aber leisten muss, ist eine Art des Reflektierens, die so nur in der Literatur stattfinden kann.
Sie darf keine mit Metaphern übergossene Arbeit am Begriff sein, die man auch in philosophischer Reinform haben könnte. Und sie darf kein Aufmarsch kostümierter Theoriehelden sein, die sonst als trauriges Gerippe dastehen würden. Ohne einen Überschuss des Lebendigen, einen Sinn für den unaufhebbaren Perspektivismus jeder Erfahrung und die tiefe Ambivalenz rein rational verteidigter Standpunkte, ist sie nicht zu haben. Sie darf sich aber auch nicht im Umgekehrten einrichten: der Annahme, dass man argumentativ jede beliebige Karte zücken darf. Coetzees Bücher ziehen Philosophen deshalb so an, weil sie im Bewusstsein dieser doppelten Versuchung geschrieben sind. Analytisches Denken kann, wie Anton Leists und Peter Singers Band über Coetzees Verhältnis zu Tierrechten, Vernunftkritik oder Geschlechterfragen exemplarisch zeigt, von fiktionalen Formen lernen.
„F“ hat in diesem Sinn weder genügend Geheimnis, was seine Figuren betrifft, noch genügend theoretisches Potenzial. Kehlmann fächert die konkurrierenden Deutungsmuster zwischen Freiheit und Determinismus, Lesbarkeit und Unlesbarkeit der Welt nur auf. Er wendet sie einmal persönlichkeitsdynamisch (der Hypnotiseur fördert nur einen Willen zutage, der ohnehin vorhanden ist), und einmal theologisch. Das Ergebnis ist ein Schwindel erregendes Panoptikum der Möglichkeiten, dessen Alternativen er zugleich diskreditiert.
Man muss gar nicht selbst die Existenz eines Gottes bezweifeln, der über Vergangenheit und Zukunft wacht. Das besorgt der jesuitisch erzogene Autor mit seinem glaubensunfähigen Priester schon allein. Und man muss gar nicht erst denken, dass Hypnose eine gewisse Nähe zu allerlei faulem astrologischen Zauber hat. Wenn der Hypnosekünstler Lindemann aus der Eingangsszene, zusehends heruntergekommen, schließlich als stockblinder Wahrsager mit Tarotkarten auftritt, weiß jeder, was von seinem Handwerk zu halten ist.
Das Fragwürdigste jedoch ist, dass dieses Buch in einer selbstbezüglichen Windung zu viel seine Leseanleitung gleich mitliefert. Was Kehlmann über die Rätsel von Arthur Friedlands Roman „Mein Name sei Niemand“ schreibt, trifft auf seinen eigenen ganz ähnlich zu: „Natürlich bildet man sich Theorien. Nach und nach hat es den Anschein, als käme man dem Verstehen näher, dann meint man sich bereits kurz davor, aber da bricht die Erzählung ab – einfach so, ohne Warnung, mitten im Satz.“ Und über dessen unversöhnte Teile: „Welcher Teil hebt welchen auf?“
Philosophisch mag es auf das Gros der Fragen, die „F“ stellt, keine eindeutigen Antworten geben. Wenn es aber die Aufgabe der Literatur ist, sie in der Schwebe zu halten, so braucht dieses Spiel doch einen existenziellen Ernst, den Daniel Kehlmann mit seinem Hang zur wechselseitigen Neutralisierung aller Gewichte allzu leichtfertig aufs boshaft ironische Spiel setzt.
Daniel Kehlmann: F. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2013. 380 Seiten, 22,95 €. – Die Buchpremiere findet am Mittwoch, den 4.9., um 20.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele zum Auftakt des Internationalen Literaturfestivals statt.
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