Sasha Waltz und Daniel Barenboim: Explosion der Energien
Das Wort „ultimativ“ hört Daniel Barenboim nicht gern – es erinnert auch an den Tod. Doch viele nennen ihn, den großen Dirigenten, und Sasha Waltz, den Tanztheater-Star, das neue ultimative Künstlerpaar. Am Samstag hat ihr „Tannhäuser“ an der Staatsoper Premiere.
Es herrscht Leben in der großen Bude. Schon am Vormittag. In den Foyers des sonst noch leeren Theaters wälzen sich junge Frauen und Männer aus vielen Ländern am Boden, machen Dehn- und Streckübungen, tuscheln und lachen, wechseln T-Shirts, Turnhosen, Röcke, Slips. Da und dort ein Kleiderhaufen, ein Papierstapel, ein abgestellter Laptop, Assistenten mit Kopfhörern beginnen herumzuwuseln, drinnen im Orchestergraben stimmen die Musiker ihre Instrumente. Wie die Tänzer ihre Körper. Und eine sehr zierliche Frau streicht einer größeren, äußerlich kräftiger wirkenden Frau über die Arme. Muntert sie auf, es werde alles gut, sie sei verletzlich, aber auch stark – und „keep on your way“.
Atme frei, bewege dich frei! Das ist die Botschaft an diesem Morgen, die die dänische Sopranistin Ann Petersen von ihrer Regisseurin empfängt. Sasha Waltz inszeniert Richard Wagners „Tannhäuser“ im Berliner Schillertheater, dem Refugium der im Renovierungsumbau befindlichen Staatsoper Unter den Linden. Dirigent ist Daniel Barenboim, Ann Petersen singt und spielt das Wartburgfräulein Elisabeth, das sich in hoher Liebe zum abgründigen Minneritter Heinrich Tannhäuser verzehrt und am Ende dafür ihr Leben drangeben wird.
Viel steht auf dem Spiel – auch einer der letzten großen Träume des Theaters: dass ein Stück, eine Musik, eine Aufführung über die Grenzen von Bühne und Parkett die Köpfe und Herzen wirklich bewegt und zum Stadtgespräch wird.
Das neue ultimative Künstlerpaar
Daniel Barenboim mit seiner Staatskapelle und Sasha Waltz mit ihren Tänzern haben das zuletzt in Berlin für ein paar Tage im Oktober 2013 geschafft, mit Igor Strawinskis gerade hundert Jahre gewordenem Tanzdrama „Sacre du Printemps“ und zwei kleineren Liebesballetten. Da standen die Leute selbst noch an den U-Bahn-Ausgängen nahe dem Schillertheater mit „Suche Karte“-Schildern; kaum hatte sich am Ende aus dem dunklen Bühnenhimmel ein riesiges Schwert auf das schutzlos entblößte, dem archaischen Frühlingsgott zu opfernde Mädchen gesenkt, gab’s rasende Ovationen. Ebenso auch in sämtlichen Kritiken.
Nun sind die Erwartungen schier übergroß. Am morgigen Samstag hat der „Tannhäuser“ Premiere. Wieder das Duo Barenboim & Waltz, und seit dem Erfolg des gemeinsamen „Sacre“ schwärmen nicht nur Opernaficionados, die beiden seien das neue ultimative Künstlerpaar.
Hierüber lächelt der weltberühmte Pianist und Dirigent, aber der Gedanke gefällt ihm wohl. Nur das „Ultimative“ ist nichts für ihn, der Worte wie Töne wägt. Ultimativ ist bloß der Tod. „Es war im Dezember 2012 in diesem Zimmer, wo Sasha und ich zum ersten Mal über eine gemeinsame Arbeit gesprochen haben.“
Das Zimmer ist Barenboims weiträumiges Direktionsbüro in der Mailänder Scala – wir treffen uns dort noch vor Beginn der „Tannhäuser“-Proben. Der Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper und Leiter der Staatskapelle ist ja seit 2011 auch der musikalische Kopf der Scala. Ende des Jahres gibt er den Mailänder Job freilich wieder auf und will sich ab 2015, neben den weltweiten Gastspielen, auf Berlin konzentrieren. Auf die Staatsoper, auf sein Orchester, auf die Aktivitäten auch seines israelisch-palästinensischen West Eastern Divan Orchestra und die von ihm gegründete Barenboim-Said-Akademie, die ab 2016 im ehemaligen Magazingebäude der Staatsoper Unter den Linden bis zu 100 junge Musiker aus den nahöstlichen Konfliktregionen ausbilden soll. Ein Vorlauf mit etwa einem Dutzend Eleven könne sogar schon nächstes Jahr gestartet werden.
Es geht ihm um "Bewegung"
Bevor wir weitersprechen, nimmt Barenboim den Besucher aus Berlin erst einmal an der Hand. Aus dem Büro im modernisierten Seitenflügel sind es nur ein paar verschwiegene Türen und kurze Gänge hinüber ins große, mit Samtrot und Goldstuck prunkende Haus aus dem 18. Jahrhundert. Sechs Ränge himmelhoch, in der Mitte die Königsloge, in die zur Eröffnung jeder Scala-Saison Italiens Staatspräsident seine Gäste lädt – und auf der Bühne eine Stunde vor der Abendvorstellung: Tänzer, die auf Fußspitzen Pirouetten drehen. Sie gehören nicht direkt zur Welt von Sasha Waltz, der neuen Königin der avancierten Tanztheaterszene, der Erbin einer Pina Bausch.
Für die 2300 Zuschauer des Teatro alla Scala steht an diesem Märzabend ein Ballett aus dem Nachlass von Maurice Béjart auf dem Programm. „Ich bin kein geborener Ballettfan“, bekennt Daniel Barenboim später in seinem Büro. „Ich bin als Kind nie in den ,Nussknacker‘ oder in ,Schwanensee‘ gegangen.“ Das nicht, obwohl der 1942 in Buenos Aires geborene Sohn jüdisch-russischer Emigranten von früh an mit und für die Musik gelebt und vor 64 Jahren bereits als pianistisches „Wunderkind“ in Wien debütiert hat. „Aber mich interessieren moderne Choreografen.“ Zu ihnen zählt er auch den 2007 verstorbenen neoklassischen Franzosen Béjart, mit dem er mehrfach zusammengearbeitet hat – und nun die doch ganz anders befeuerte Sasha Waltz.
Barenboim sagt, es gehe ihm um „Bewegung“. Jeder Musikton erzeugt Schwingungen, physikalische und psychologische, „selbst die Stille braucht auf der Bühne Bewegung, braucht Bewegtheit“.
Ein bisschen Orgie muss schon sein in der Höhle der Venus
Was bewegt ihn bei Sasha Waltz? Barenboim ist ihr erst 2009 begegnet, als er ihre ursprünglich für die Pariser Oper entworfene Inszenierung von Hector Berlioz’ „Roméo et Juliette“ sah, eine Mischung aus sinfonischer Musik, Tanz und Gesang. Er begreift Sasha Waltz seitdem „als besondere Künstlerin“, die „aus Instinkt und Verstand einen Schlüssel besitzt für die Verkörperung von Gedanken und Gefühlen“. Das sei mehr als bloß formale Virtuosität oder der Sinn für Schönheit, den die Italiener so gerne pflegen.
Das Schwere, Tiefe, das Widersprüchliche oder gar Dämonische gilt in den Künsten als Domäne der Deutschen. Es zieht auch Barenboim an, weil es seine eigene Schönheit hat. Daher sein Kampf für Wagner, den universellen Komponisten. Für seine Musik, auch in Israel, weil er sie unbedingt trennt von dem privaten, pamphletistischen Antisemiten R. W.
Barenboim, der fließend sechs oder sieben Sprachen spricht und nicht weiß, in welcher er gerade träumt, er wendet sich mit leiser Stimme entschieden gegen jegliche Stereotypen. „Ich habe mit sieben Beethoven gespielt, da fürchteten manche, das sei doch zu schwer, zu ernst, zu tief für ein Kind.“ Sein Vater als sein Lehrer habe ihm dagegen gesagt: „Reife ist keine Frage des Alters!“ Und, fügt er lächelnd hinzu, „wissen Sie, wer für mich der größte ,deutsche‘ Pianist war? Claudio Arrau, der war Chilene!“ Nur die Nazis hätten gedacht, das Deutsche gehöre allein den Deutschen. Deswegen dürfe auch Wagner nicht Hitler, dem selbstberauschten Vampir, überlassen bleiben.
Und der zwischen heidnischer Venus und der katholischen Jungfrau Maria (alias Elisabeth) zerrissene Herr Tannhäuser? Viel näher dem deutschen Faust, zwei Seelen, ach, in seiner Brust, als dem romanischen Don Juan, und am Ende siegt über die sinnliche Liebe die religiöse Räson. Diese ist eins auch mit der staatlichen Gewalt, was hier heißt: Erlösung gibt es nur im Tod. Und, natürlich, im Reich der Musik.
"Tannhäuser ist ein Außenseiter, ein Künstler"
Mitte März. Ein paar Tage bevor Daniel Barenboim mit seinem Orchester, den Sängern und Sasha Waltz zusammentrifft, die ihrerseits bereits mit ihren Tänzern und dem Chor der Staatsoper vorprobiert hat. Da will Barenboim sich auf keine Auslegung festlegen. Er sagt nur: „Tannhäuser ist ein Außenseiter, ein Künstler.“ Und Religion ist, wenn sie politisch wird und jedermann verpflichtet, für ihn kein Ausweis der Freiheit und, vom Mittelalter in die Gegenwart gedacht, „mit Demokratie nicht vereinbar“.
Sasha Waltz greift das auf, schon in den Kostümen. Die stammen für die Welt der Ritter und des Wartburg-Hofstaats, vom Kostümbildner Bernd Skodzig elegant dezent entworfen, aus den fünfziger Jahren. Später, in der Woche vor der Premiere, erzählt die Regisseurin und Choreografin in einem italienischen Opernrestaurant in Charlottenburg, diese Fünfziger seien zunächst mal die Zeit und der Stil, in dem das Schillertheater nach dem Krieg wiederaufgebaut wurde. „Und es ist das Jahrzehnt, in dem die Kriegs- und Vorkriegszeit noch als das Alte nachhallt und das Neue, die größere Freiheit im Politischen und Privaten, die mit der Protestbewegung und der Popkultur der sechziger Jahre kommt, gerade noch bevorsteht. Auch Tannhäuser steht zwischen zwei Zeiten und Welten.“
Im „Tannhäuser“ wäre die feudale, fromme Wartburgwelt also die untergehende Epoche – Sasha Waltz hat zur Vorbereitung auch Johan Huizingas kurz nach dem Ersten Weltkrieg erschienene epochale Studie über den „Herbst des Mittelalters“ gelesen. Und das vorchristlich-antike Reich der Sinne von Frau Venus, in deren sündig-selige Höhle es den Tannhäuser immer wieder zieht, das wäre der Vorschein der Renaissance und Aufklärung. Schön gedacht, aber nicht leicht zu spielen.
Eine Mischung aus Dresdner und Pariser Fassung
Richard Wagner hat für den 1845 in Dresden uraufgeführten „Tannhäuser“ mehrere Fassungen geschrieben. Weil Napoleon III. den „Tannhäuser“ auch in Paris zu sehen wünschte und die Pariser Gesellschaft erst nach dem Diner zumeist verspätet in die Oper kam, verlängerte Wagner 1860 das Vorspiel um ein ballettöses Bacchanal in der Venusberghöhle. „Wenn man mich schon engagiert“, ruft Sasha Waltz lachend aus und pocht mit der Faust auf den Tisch, „dann wollte ich das natürlich mit Bacchanal!“ Ein bisschen Orgie für die 18 hinzuengagierten Tänzerinnen und Tänzer ihrer Compagnie soll denn sein, und Berlin sieht so eine Mischung aus Dresdner und Pariser Fassung.
Allerdings bittet Waltz den zu den Endproben zugelassenen Gast, diese Anfangschoreografie rund um die rothaarige Venus der Marina Prudenskaya und den berühmten, gewichtigen Wagner-Tenor Peter Seiffert („ich habe den Tannhäuser schon 150 Mal gespielt, hier wird er besonders“) nicht vorab zu verraten. Nur so viel darf sein: Der Venusberg erscheint in dem von Waltz und Pia Maier Schriever erdachten Bühnenbild als monumentaler, zum Publikum geöffneter Trichter, in dem die Tänzer den Tannhäuser wie menschliche Schlangen umschmeicheln werden. Ein Anklang auch an die grandiose Ouvertüre des „Körper“-Spektakels, mit dem Sasha Waltz 2000 ihre damalige Kodirektion an der Berliner Schaubühne eröffnet hatte.
"Daniel, wir müssen reden!" Nur einmal hat es Krach gegeben
Bei der Klavierhauptprobe, die, anders als die Proben mit ganzem Orchester, der Chef nicht selbst dirigiert und auf der vor allem die Regisseurin mit Sängern, Tänzern und Chor szenisch arbeitet, schaut Barenboim aufmerksam zu. Nach dem Bacchanal aber kommt es „zu unserem einzigen Konflikt“, wie Sasha Waltz später betont. Barenboim verlässt verärgert die Probe, ist in diesem Moment auch für Waltz („Daniel, wir müssen reden!“) nicht ansprechbar. Barenboim stört, dass der Vorhang bereits beim Vorspiel des Orchesters offen ist und das Licht ihn im Orchestergraben blendet. „Der Vorhang muss geschlossen sein, denn in der Ouvertüre erzählt allein die Musik das Stück, dazu bedarf es keiner Illustration.“
Zwei Stunden danach, in einer Pause, ist der Konflikt zwar noch nicht gelöst, aber Barenboim wieder besänftigt. „Es wird großartig, sie ist so begabt“, rühmt er die Regisseurin. Beide finden dann einen Kompromiss, bei offenem Vorhang. Und Sasha Waltz, die so mädchenhaft wirkende Fünfzigjährige, wirbelt weiter wie ein zielbewusster Irrwisch durch das große Haus. Sie massiert, seelisch und körperlich, springt im Parkett neben dem Regiepult unzählige Male auf, klettert über Sitze und Reihen, rast in ihren Sneakers (und ein Mal sogar auf höheren Hacken) auf die Bühne, huscht gleich einem Puck um die singenden Solisten herum, korrigiert in deren Gesang noch Haltungen, dirigiert Tänzer und Chor lautlos mit Armen, Handzeichen und manchmal, wie auch in ihren Reden, mit luftmalerisch fliegenden Fingern.
Begeisterung und Bewegung
Regie Waltz heißt Begeisterung und Bewegung, eine Explosion der Energien. Für Sasha Waltz, die vom deutschen Ausdruckstanz und dem von Swing und Pop stimulierten amerikanischen Modern Dance herkommt, die sich aus der Berliner Offszene an die Weltspitze katapultiert hat, ist der „Tannhäuser“ nicht die erste Arbeit in der Oper. Aber viereinhalb Stunden Wagner zu stemmen und nicht mit ihrer Firma Sasha Waltz & Guests auch selbstständige Koproduzentin zu sein, sondern in einem traditionellen Opern-Repertoirebetrieb sich als Gastregisseurin durchsetzen zu müssen, das bedeutet eine ganz neue Herausforderung.
Für Daniel Barenboim, den Maestro auf allen großen Bühnen der Welt, ist es überraschenderweise erst der zweite „Tannhäuser“. Das erste Mal hat er ihn vor 15 Jahren an der Staatsoper in einer Inszenierung von Harry Kupfer dirigiert. Damals haben Kritiker Barenboims passagenweise sehr elegisch oder mystisch gedehnte Tempi moniert. Er aber sagt: „Wir sind heute Gefangene der Geschwindigkeit!“ Die Musik dürfe nicht dem Tempo folgen, sondern umgekehrt. „Die Entscheidung darüber ist die strategisch wichtigste, um eine Balance zwischen Gewicht und Durchsichtigkeit zu schaffen.“ Hierzu zitiert Barenboim eine Wortschöpfung des Jahrhundertdirigenten Wilhelm Furtwängler, dessen Bild mit einer Widmung für die Staatskapelle aus dem Jahr 1947 in seinem Berliner Arbeitszimmer steht. „Furtwängler sprach von der Kunst des Fernhörens – beim ersten Ton schon das Finale mitzubedenken.“
Tannhäuser - ein Suchender
Musizieren erinnert Barenboim so „an das Leben, das im Nichts beginnt und im Nichts endet“. Dazu schlägt der Dirigent symbolisch die Brücke. Ob das Konzept der Inszenierung hier Einfluss hat auf die Musik? Seine knappe Antwort ist: „Nein.“
Den Tannhäuser sieht Sasha Waltz als Suchenden, ob im Venusberg, auf der Wartburg oder als bußfertiger Rom-Pilger, immer unterwegs zu sich selbst. Zwischen den Zeiten und Welten. Die Tänzer sind dabei inmitten der Sänger die stummen Geister, keine Doppelgänger, vielmehr Schatten „des kollektiven Unterbewusstseins“, erklärt sie. „Und niemand ist da nur Opfer, auch die Elisabeth, die den Tannhäuser schützen will und für ihn stirbt, beweist Stärke.“ Sie stecke noch in der alten Zeit, wie die zupackenden Trümmerfrauen, die man dann in den fünfziger Jahren wieder an den heimischen Herd zurückgedrängt habe. „Die Frauen müssen bis heute kämpfen. Auch der Opernbetrieb ist noch eine patriarchalische Bastion“, lacht Waltz, „patriarchalischer geprägt als der Rest der Gesellschaft.“
Jürgen Flimm, der als weißgrauer Prospero und, ja, Patriarch, sprich: Staatsopernintendant, ab und an durch die Proben geistert, sieht das naturgemäß gelassen. „Sasha und Daniel ergänzen sich wunderbar, auch in ihrer Verschiedenheit.“
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.