Die Brexit-Entscheidung und die Folgen für Berlins Kultur: Exit Volksbühne
Die Volksbühne protestiert gegen Chris Dercon. Tritt das Theater jetzt aus Berlin aus? Eine Beobachtung von Rüdiger Schaper
Auf den Partys gibt es jetzt nur ein Thema. Das mit den Engländern und Europa. Nationalismus überall auf dem Vormarsch. Holy shit! Plötzlich kann man die schottischen Freunde, die den Brexit-Tag in Berlin erlebt haben, verstehen, wenn sie sagen: Out! We want independence! Wie vor einem guten Vierteljahrhundert, als im Osten die Mauern fielen, erlebt man Geschichte unmittelbar. Aus Glasnost, Perestroika und „Wir sind das Volk“ entwickelten sich anhaltend bedrohliche Typen und Strukturen. Putin und Pegida. Erst stürzen die Reiche im Osten, nun zerbröselt Großbritannien, vielleicht Spanien demnächst. Madrid verliert Barcelona und bekommt Gibraltar zurück, und dann wachen auch die Basken wieder auf. Man fühlt sich um Jahrhunderte zurückversetzt in Zeiten, als Grenzen allein zum Verändern existierten und Herrschaft wechselte wie das Wetter. Das bedeutete meistens Krieg.
Das andere große Thema der letzten Woche ist mit dem Brexit etwas ins Hintertreffen geraten: die Volksbühne und Chris Dercon. Aber wie immer hängt alles mit allem zusammen, und da hatte jemand auf einer Gartenparty einen ganz tollen Gedanken: Dercon kann die Volksbühne gar nicht übernehmen, weil er keine Arbeitserlaubnis bekommt! Hahaha. Dercon lebt zwar seit ein paar Jahren in London, hat die Tate modern geleitet, aber er ist kein Brite, sondern Belgier. Aus Flandern, um genau zu sein.
Vielleicht wollen sich auch die Flamen und Wallonen demnächst scheiden lassen, aber das wird die belgische Regierung verhindern. Wenn es denn eine gibt. Ein Land ohne Regierung kann nirgendwo ein- oder austreten. Gute Idee für die Engländer: Cameron tritt zurück, und es gelingt nicht, sich auf einen Nachfolger zu einigen. And they remain.
Der Volksbühnen-Protest gegen Chris Dercon muss also im europäischen Zusammenhang gesehen werden. Es ist ein Protest gegen Brüssel und die EU. Das Haus will nicht von draußen regiert werden, schon gar nicht von einem Belgier, der vom Theater keine Ahnung hat. Egal, ob er sein Programm schon vorgestellt hat oder nicht. Das ist eine Bauchsache. Denn im Grunde will Volksbynien auch nicht vom Berliner Senat regiert werden. Chris Dercon hat nur Zugang zur Volksbühne erhalten, weil das jetzt anwaltlich geregelt ist.
Das Rote Rathaus und die Kulturverwaltung in der Brunnenstraße sind ein paar Kilometer Luftlinie entfernt, doch derzeit liegen Welten zwischen dem Theater und den Berliner Regierenden. Wahrscheinlich wird die Volksbühne aus Berlin austreten und unabhängig werden. London wird ja vermutlich auch England verlassen und sich der EU anschließen. Frei von Brüsseler und Berliner Gesetzen, wählt sich die Volksbühne ihre eigene Staatsform. Vermutlich gelenkte Demokratie oder Monarchie. Frank I. wird aus dem Exil zurückgeholt. Alles wird, wie es bleibt, oder umgekehrt. Wir beantragen schon mal Visa.