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Kultur: Europas Stärke ist sein Sinn für Katastrophen

Amerika hat seine moralische Autorität verspielt: eine Begegnung mit dem britischen Historiker Tony Judt

Auf halber Strecke zwischen den Geistern Mitteleuropas und den Berufsamerikanern befindet sich der Senatssaal der Berliner Humboldt-Universität. Man erreicht ihn über die große Treppe in der Eingangshalle, vorbei an den berühmten Worten jenes Mannes, der meinte, Philosophen hätten die Welt schon genug interpretiert, es komme darauf an, sie zu verändern. Sie stehen da ganz ungerührt, als bräuchten sie nicht die Ergänzung, die ihnen der Historiker Tony Judt, der gleich ans Pult treten wird, im Epilog seines neuen Buches zuteil werden lässt. Frage an Radio Eriwan: „Kann man die Zukunft vorhersagen?“ Antwort: „Im Prinzip ja. Aber wir haben ein Problem mit der Vergangenheit. Sie verändert sich ständig.“

Ein kühler Oktoberwind kriecht durch den Senatssaal, und die fahlen Deckenleuchten zeichnen den Zuhörern eine zusätzliche Blässe ins Gesicht. Wenn der zweifelhafte Charme dieses Orts eine große Metapher für den Zustand der transatlantischen Beziehungen sein sollte, so ist zwar kaum jemand besser geeignet, sie auszudeuten, als Tony Judt. Er ist aber auch nicht derjenige, der sie in hellerem Licht erstrahlen lassen würde. George W. Bushs Amerika hat in seinen Augen jegliche moralische Autorität verspielt, und er sieht für Europa die Zeit gekommen, sich von den Direktiven der Vereinigten Staaten ruhig ein wenig freier zu machen als bisher. Judt weiß, wovon er redet, denn er kennt beide Seiten. 1948 als Sohn eines belgisch-jüdischen Vaters und einer rumänisch-russischen Mutter in London geboren, ist er im dortigen East End aufgewachsen, hat in Frankreich studiert, in Cambridge und Oxford gelehrt, eine Amerikanerin geheiratet und lehrt heute an dem von ihm 1995 gegründeten Erich-Maria-Remarque-Institut der New York University European Studies.

„Postwar“ heißt seine im Hanser Verlag gerade auf Deutsch erschienene „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ (1024 Seiten, 39,90 €) im englischen Original: die Darstellung einer 60 Jahre währenden Epoche, die nun, so Judt, an ihr Ende gekommen sei. Das im Schatten des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust errichtete Europa könne im Lauf der voranschreitenden Einigung mehr und mehr einen eigenen politischen Willen entwickeln, ja, höhere militärische Potenz vorausgesetzt, sogar im Nahen Osten eine Verantwortung übernehmen, von der Amerika aus vielen Gründen überfordert sei. Das Mikrofon im Senatssaal reichert Judts Ausführungen mit einem dumpfen Hall an, doch es dauert nur ein paar Minuten, bis er sein Publikum in freier, ruhig dahinströmender Rede die ganze Hässlichkeit des Raumes vergessen lässt.

Die besondere Leistung von „Postwar“ besteht nicht nur darin, dass es Sozial- und Geistesgeschichte bis in die Schichten der Populärkultur hinein verbindet, sondern dass es die Schicksale von West- und Osteuropa zusammen liest. Judt interessiert sich nicht für Nationalgeschichten. Er ignoriert die konventionelle Trennung der Machtblöcke nach dem Krieg, deren Aufteilung der Kalte Krieg zu zementieren scheint. Virtuos bewegt er sich zwischen beiden Welten hin und her, sucht nach Parallelen – und entdeckt sie vor allem im Zelebrieren eines WiderstandsMythos, der erstens die Mitverantwortung für den Holocaust in den Hintergrund drängt und zweitens oft nicht einmal stimmt. Darin gleichen sich, wie Judt eindrucksvoll zeigt, Niederländer und Ungarn, Polen und Franzosen.

Sein Lieblingsbeispiel ist das heute weltberühmte Erinnerungsbuch des Turiner Chemikers Primo Levi an seine Zeit in Auschwitz: „Ist das ein Mensch?“ .1946 geschrieben, wurde es anfangs auch von linken Verlagen in seinem Land abgelehnt. Dass Levi seine Deportation als Jude in den Mittelpunkt stellte, statt von seinem Kampf in der resistenza zu erzählen, passte nicht ins Bild. Zum klassischen Zeugnis der Schoa avancierte es, gemeinsam mit Levis anderen Büchern, erst in den achtziger Jahren. Die Zeit war reif, um den Holocaust ins allgemeine Bewusstsein zu rufen. In den Worten des Londoner Germanisten Jeremy Adler: „Die öffentliche Meinung brauchte rund 50 Jahre, um den Zyklus von der Repression zur Obsession zu durchlaufen.“ Auch davon wird sie sich wieder verabschieden.

Judt geht es keineswegs darum, Unterschiede zwischen Ost und West zu verwischen. Er will den beiden Erinnerungskulturen und ihren auseinanderdriftenden Chronologien nur beweglichere Achsen einziehen. Statt die Frage nach Kriegsgewinnern und Kriegsverlierern zu stellen, schlägt er vor, die Aufmerksamkeit auf Kategorien wie am Krieg beteiligt gewesene und neutrale Staaten zu richten, auf besetzte und unbesetzte Länder. Oder auf die Gedächtniskapazitäten der Generationen.

Rein zahlenmäßig, erklärt er, bildeten die zwischen 1914 und 1930 Geborenen – nicht zuletzt durch die Vernichtungsarbeit des Ersten Weltkriegs – den kleinsten Anteil an der Bevölkerung des modernen Europa. Die in den Jahren 1946 bis 1951 Geborenen, eine regelrechte Baby-Boomer-Generation, bilde hingegen den größten Verbund. Der Vergangenheit zu gedenken, ist eben auch immer eine Frage von Mehrheiten. Das Bestechendste an „Postwar“ aber ist, dass man es trotz seiner enzyklopädischen Anlage tatsächlich lesen kann. Judt schreibt einen anschaulichen, knappen Stil mit erzählerischen Qualitäten, der Zahlen und Daten wie selbstverständlich verarbeitet.

Wo immer ich hinkomme, sagt er tags darauf beim Gespräch im Berliner Hotel, wird Europa als Modell angesehen – das neue Europa. Dasjenige, zu dem bald auch die Türkei gehört. Das sich bis tief in den Osten hinein erweitert. Und nach welchem Modell soll sich dieses Europa richten? Ich würde mich gerne, sagt Judt, in ein kuscheliges Mitteleuropa zurückdenken, wie es etwa im Werk von Joseph Roth aufscheint, nur dass es untergegangen ist und man sich über sein friedfertiges Miteinander Illusionen hingibt. Nein, Europas Stärke ist gerade sein Sinn für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Ein entscheidendes Problem von Amerika sei, dass es diesen Katastrophensinn auch nach 60 000 Toten im Vietnamkrieg nicht habe entwickeln können.

Man sollte Judt also nicht für einen schönfärberischen Utopisten halten. Er ist Realist und – mit Blick auf die sozialen Probleme an den Rändern Europas – sogar Pessimist genug, um die Zerbrechlichkeit seiner Träume zu kennen, und legitimiert damit auch seine Kritik an der Innen- und Außenpolitik der USA, seiner israelischen Lobby und Israels selbst.

Vor drei Jahren veröffentlichte er, der säkulare Jude, der regelmäßig in der liberalen israelischen Tageszeitung „Haaretz“ schreibt, in der „New York Review of Books“ einen folgenreichen Essay: „Israel: Die Alternative“ (deutsch bei den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ unter www.blaetter.de). Judt beschreibt darin den jüdischen Staat als Anachronismus. „Das Problem ist, dass dieser Staat ein typisches separatistisches Projekt des späten 19. Jahrhunderts in eine Welt importiert, die sich weiterentwickelt hat – in eine Welt der Menschenrechte, der offenen Grenzen und des Völkerrechts. Die Idee eines ,jüdischen Staats’ an sich – in dem Juden und die jüdische Religion exklusive Vorrechte genießen, von denen nichtjüdische Bürger für immer ausgeschlossen sind – hat ihre Wurzeln in einer anderen Epoche und in einer anderen Region.“

Zugleich erläutert Judt das Dilemma, in das sich das Land mit seiner ethno-religiösen Diskriminierungspolitik begeben hat: „Israel ist eine Demokratie.“ Einen Ausweg sieht er nur in der Gründung eines binationalen Staates von Juden und Arabern. Die erbosten Reaktionen haben seitdem nicht mehr aufgehört. Erst vor vier Wochen wurde Judt auf sanften Druck der Anti-Defamation League und des American Jewish Committee von einem Vortrag zum Thema im polnischen Konsulat ausgeladen. Woraufhin 154 in der Sache nicht unbedingt einverstandene Intellektuelle eine Solidaritätsadresse in der „New York Review“ veröffentlichten.

Es gibt nur zwei Länder auf der Welt, sagt Judt, in denen man immer sofort mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert wird: Amerika und Deutschland. Wo es doch wichtig wäre, endlich einmal antijüdische Ressentiments und berechtigte Israelkritik auseinanderzuhalten. Daran haben offenbar nur wenige Interesse. Ein Mechanismus, der, wie er zugibt, auch bei der beliebten Verwechslung von Kritik an Amerika mit Antiamerikanismus greift. Was also tun? DerWeg ist weit, sagt Judt, und er ist langweilig: Argumentieren, Insistieren und wieder Argumentieren – nichts führt daran vorbei. Niemand soll sagen, das hätte nicht schon erste Früchte getragen.

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