Wolf Lepenies zum 80.: Europa vom Süden her denken
Mehr als ein Soziologe: Der Berliner Universalintellektuelle und Wissenschaftspolitiker Wolf Lepenies wird 80 Jahre alt.
Wer sich Wolf Lepenies als jungen Mann vorstellen will, hat es angesichts der Geistesgegenwart, mit der er am heutigen Montag seinen 80. Geburtstag begeht, nicht schwer. Weitaus schwerer ist es, sich einen jungen Gelehrten und Publizisten seines Typus auszumalen, der heute eine vergleichbare Stellung erreichen würde.
Ungeachtet der internationalen Anerkennung, die Lepenies bis hin zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Jahr 2006 erwarb, war er nämlich immer ein Unzeitgemäßer: von Anfang an fremd in seinem Fach, der Soziologie, die er in seinen Arbeiten kulturhistorisch umdefinierte, unbeeindruckt von den revolutionären Umtrieben der 68er-Kommilitonen und auf gelassener Distanz zu den Hysterien der Tagespolitik.
Lepenies zog es vor, auf Umwegen zu gestalten und bewegte durch sein wissenschaftspolitisches Engagement mehr, als es ihm etwa auf dem Posten des Kulturstaatsministers, der ihm in der Nachfolge von Michael Naumann angeboten wurde, je gelungen wäre. Als Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, das er 1986 übernahm und bis 2001 führte, trug er drei Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wesentlich dazu bei, als erstes osteuropäisches Institute for Advanced Study das Collegium Budapest einzurichten.
Zwei Jahre später initiierte er mit dem Philosophen Andrei Plesu das ähnlich konzipierte New Europe College in Bukarest. In Sofia entstand mit dem Politologen Ivan Krastev ein Centre for Liberal Strategies, in St. Petersburg mit dem Altphilologen Alexander Gavrilov die Bibliotheca Classica: Einrichtungen von ehemaligen Fellows, die tief in die Transformationsgesellschaften ihrer Länder hineinwirkten.
Viktor Orbán verjagt die Central European University
Mit Wehmut musste Lepenies nur verfolgen, wie das Collegium Budapest 2011 vom ungarischen Staat finanziell im Stich gelassen wurde. Als Teil der von George Soros unterstützten Central European University (CEU) konnte es nur in reduzierter Form wiedererstehen: Als weltoffener Stachel sitzt es aber nach wie vor im nationalpopulistischen Fleisch von Viktor Orbán, der die verwaltende CEU 2019 über die Grenze nach Wien jagte. Dabei gehört die große Leidenschaft dieses liberalkonservativen Geistes eigentlich Frankreich.
Sie prägt auch sein jüngstes Buch „Die Macht am Mittelmeer“ (Hanser 2016). Lepenies untersucht darin Modelle, mit denen sich die rein ökonomische Übermacht Deutschlands als Inbegriff des Nordens innerhalb der Europäischen Union zugunsten eines kulturellen Südens ausbalancieren lässt. Dabei bezieht er sich unter anderem auf Paul Valéry, Alexandre Kojève, Hannah Arendt und Albert Camus’ pensée du midi.
Obgleich er die Schriftsteller unter ihnen mit theoretischen Texten zitiert, sind ihm fiktionale Quellen unentbehrlich – und die Klarheit des Stils, die er ihnen verdankt, zählt zu den größten Vorzügen seines Denkens. Schon in seinem ersten Buch „Melancholie und Gesellschaft“, der zum Klassiker gewordenen Dissertation des 26-Jährigen, heißt es: „Beliebt ist und bleibt der Einwand, Soziologie könne als gegenwartsorientierte Wissenschaft auf Literatur verzichten.
In dieser Position, in der zwei lästige Fliegen – Geschichte und Literatur – mit einem Schlag erledigt werden, bleibt von der Historie nichts und von der Literatur die Erlaubnis zum exquisiten Zitat und zum ironischen Aperçu übrig.“ Daran hat er sich, unter Berufung auf Arnold Gehlen, der die Romane von Emile Zola zu einem unschätzbaren Reservoir erklärte, gehalten.
Soziologie und Literatur brauchen einander
Den lebendigsten Beweis, dass Soziologie und Literatur einander brauchen, trat er 1997 mit „Sainte-Beuve“ an. Die Studie über den einflussreichsten französischen Kritiker des 19. Jahrhunderts, ja den vielleicht wirkmächtigsten Literaturkritiker aller Zeiten, mit dem sich Marcel Proust in seiner nachgelassenen Abrechnung „Contre Sainte-Beuve“ reichlich ungerecht anlegte, porträtiert einen Denker, der die „Schwelle zur Moderne“ betrat, aber nicht über sie hinwegkam.
Wolf Lepenies hat seinen Weg ins 21. Jahrhundert mit Offenheit und Beharrlichkeit längst angetreten. Er mag sich über manche intellektuellen Strömungen inzwischen die Haare raufen – wie er in Kenntnis aktueller Diskussionen aus seinem Fundus schöpft, ist für die Gegenwart immer erhellend.
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Ohne eine Portion Glück wäre ihm das alles, wie er selbst am besten weiß, nicht vergönnt gewesen. Nur ein überfüllter Zug verhinderte, dass seine Mutter und er auf der Flucht aus Ostpreußen im Februar 1945 dem Dresdner Feuersturm entgingen. Sie strandeten auf einem Bauernhof in der Nähe. Zu den wenigen Kriegserinnerungen des Vierjährigen gehören die Flammen, die er am Horizont lodern sah.
Im Nachhinein betrachtet er sich als Teil einer „Generation, die rechtzeitig zu spät kam“ und daraus ihre Verpflichtungen bezieht. Ein zusätzliches Glück segnete ihn mit ironischem Witz und einem ausgleichenden Temperament, aus dem sein diplomatisches Geschick erwuchs. Wenn die Zeiten nicht so feierfeindlich wären, würde man am Wissenschaftskolleg, wo er als Permanent Fellow forscht, sehen, wie viele Freunde er damit um sich geschart hat.
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