Die Theater in der Krise: „Es ist eine große Experimentierzeit, darin liegt die Chance“
Während der Pandemie streamen viele Theater ihre Inszenierungen. Regisseur Arne Vogelgesang experimentiert schon lange mit Netz-Formaten. Ein Gespräch.
Der Vorhang zu, doch die Kanäle offen: In Lockdown-Zeiten bleibt den Theatern nur das digitale Angebot. Einer, der sich mit seiner Gruppe internil schon lange im Netz bewegt, ist der Theatermacher Arne Vogelgesang. In Stücken wie „Glühende Landschaften“, „Flammende Köpfe“ oder „Staatenlos“ hat er sich vor allem mit Radikalisierungsphänomenen beschäftigt. Ein Gespräch über die Gemeinsamkeiten zweier vermeintlich wesensfremder Medien.
Herr Vogelgesang, als im Frühjahr während der ersten Theaterschließungen die Häuser reihenweise zu streamen begannen, schien das unter dem alten Angela- Merkel-Motto zu stehen: „Das Internet ist für uns alle Neuland…“
In der Panik dieser Zeit wurde möglichst viel möglichst schnell digital rausgekübelt, um zu beweisen, dass man noch existiert. Um sich zumindest selbst die Existenzberechtigung vorzuspielen, für die man sonst vielleicht nicht viel Publikum gefunden hat. Das Gefühl – das meine Kollegin Marina Miller Dessau und ich übrigens auch hatten – war zwar: Man müsste mehr live machen, mehr interaktiv. Aber sich die Grundlagen dafür anzueignen, das geht eben nicht so schnell.
Sie gelten als Pionier in Sachen Theater und Netz.
Aber die meiste Zeit haben wir nur Transport in eine Richtung unternommen – nämlich Internet-Recherchen für Live- Räume mit Publikum aufzuarbeiten. Das war die Einbahnstraße. In der anderen Richtung sind wir jetzt auch eher als Geisterfahrer unterwegs. Es ist eine große Experimentierzeit, darin liegt gerade die Chance.
Machen Sie in der gegenwärtigen zweiten Streaming-Welle der Theater irgendwo vielversprechende Entwicklungen aus?
Bei den meisten Streams habe ich wieder ausgeschaltet. Gerade, wenn sie aus abgefilmtem Theater bestanden. Ich gehe sowieso nicht oft ins Theater, und zuhause vor dem Computer ist meine Konzentration komplett anders. Im Theater zwingt man sich, gewisse Dinge auszuhalten, was sich manchmal auszahlt, manchmal nicht. Das ist die Wette, die man eingeht. Die funktioniert zuhause nicht.
Niemand als Vorbild in Sicht?
Am Theater Augsburg wird dieses „Wir wissen nicht wie es geht, aber schmeißen uns da rein“ wirklich ernst genommen. Man traut sich Live-Streams von den Proben oder Opern-Kommentare auf Twitch – wo beide Seiten erstmal verwirrt sind, sowohl das Internet-Laufpublikum als auch die Opern-Besucher. Diese Überkreuzung von Welten finde ich das Spannendste im Moment: mit dem zu experimentieren, was Publikum und Publikumsbeziehung bedeutet.
Da fällt aber vielen Bühnen momentan nur ein, bei der Übertragung die Kommentarfunktion einzuschalten.
Bei einem Stream sind Chats nun mal die einfachste Variante, den Leuten die Möglichkeit zu geben, sich überhaupt als Publikum zu konstituieren. Das ist der einzige Kanal, in dem all diejenigen, die nicht Perfomer sind, zur Kenntnis nehmen können, dass sie anwesend sind. Ein Augensymbol und die Live-Zuschauerzahl XY – das sagt mir ja nichts, das ist reine Metrik. Ein Publikum ist aber keine Metrik, sondern ein sozialer Körper.
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Sind Theater und Netz nicht Medien mit verschiedener Erwartung an Fiktion?
Theatrale Praxis kommt im Internet sowieso schon vor. Dass man spielt, sich einen anderen Namen oder eine andere Identität gibt, das sind doch uralte Internet-Praktiken. Alles was auf Youtube oder TikTok in puncto Repräsentation passiert – Menschen stellen sich vor die Kamera, sprechen andere direkt an, spielen Szenen miteinander –, nutzt Theater-Bausteine. Bloß die Infrastruktur ist digital. Körper existieren als Bilder und als eigene Wahrnehmung, aber wir bekommen kein Gefühl für die Körper der anderen. Das ist der große Unterschied.
Das Theater sieht sich gern als Ort der Aufklärung. Im Internet findet vor allem Gegenaufklärung statt.
Zum einen gab es auch ein Theater vor und parallel zur Aufklärungstradition. Zum anderen spielt Aufklärung als Praxis eine unglaublich große Rolle im Internet. Alles, was wir jetzt als Verschwörungserzählung und Post-Wahrheit erleben, nutzt aufklärerische Praxis, um aufklärerische Effekte zu zerstören: recherchieren, vermeintliche Fakten sammeln, sie mit anderen teilen. Der Anspruch, Wahrheit zu vermitteln – und im Theater geht es oft eher um gefühlte Wahrheiten als um tatsächliche –, ist im Internet genau so ausgeprägt.
Warum haben Sie angefangen, wie Sie selbst sagen, „Kunst darüber zu machen, was Menschen mit Computern anstellen“?
Ich mochte Computer schon damals, als es noch den KC 85/3 gab und den KC 87 gab. Dann kam der Amiga 500 nach der Wende. Ich fand das faszinierend, auch das Internet. Um 2013 herum habe ich festgestellt, dass ich so wahnsinnig viel Zeit am Computer verbringe, im Netz so viel Interessantes finde über menschliche Beziehungen und Verhaltensweisen, dass es absurd wäre, nicht darüber Theater zu machen. Ganz banal: Du kannst nur von dem berichten, was du kennst.
Ihre Gruppe internil bewegt sich momentan mit dem Projekt „unreal.theatre“ auf der Virtual Reality-Plattform VRChat. Was hat es damit auf sich?
Wir probieren dort ganz niedrigschwellig und konzeptarm herum. Sozusagen in einem vor-künstlerischen Stadium. Jede und jeder ist eingeladen, uns in dieser Orientierungsphase zu begleiten. Ich halte das Potenzial von VR für ziemlich groß. Soziale VR-Plattformen bringen das Interface mit, um mit anderen, die sich dort aufhalten, zu interagieren. Eine sehr gute Möglichkeit fürs Theater.
Weil dort neues Publikum wartet?
Nicht nur. Den Drang, sich neues Publikum erschließen zu wollen, haben ja vor allem die großen Theater. Unsere momentane Chance besteht eher darin, mit einem anderen Publikum und anderen Sehgewohnheiten in Berührung zu kommen – und zu versuchen, die zu verstehen.
Der Körper verschwindet. Was ist das Versprechen von Virtual Reality?
Der Körper verschwindet nicht, er wird transportiert. Dass ich einen virtuellen Körper bewohnen kann, ist doch spannend. Das Medium selbst wirkt außerdem unheimlich körperlich. Ich muss mich orientieren, habe vielleicht manchmal mit motion sickness zu kämpfen, weil ich mich in zwei Räumen gleichzeitig bewege. Ich habe auch im virtuellen Raum Hände und Beine, nur sehe ich vielleicht ganz anders aus. Im Moment baue ich mir einen Käfer-Avatar, der vier Arme hat. Damit lässt sich wunderbar spielen.
Viele Theater investieren jetzt in Technik statt in Kunst, gestreamt wird nicht selten über die einschlägigen Plattformen. Sind Youtube & Co die Krisengewinner?
Ja, wir als Gruppe streamen auch über Twitch, und das gehört Amazon. Oder wir haben Sachen auf Youtube gemacht, einfach weil dort Publikum ist. Wenn Theater ihre eigenen Plattformen entwickeln würde, hätten sie dort erstmal nur ein Theaterpublikum. Was schade wäre. Aber es gibt durchaus Diskussionen darüber, solche Strukturen aufzubauen. Bei der Konferenz ,Postpandemisches Theater’, die kürzlich stattgefunden hat, lief das unter dem Stichwort ,Netflix für Theater’: eine gemeinschaftliche Plattform aufbauen, wo Produktionen versammelt sind – nach den Regeln der Theater.
Wie wird das postpandemische Theater aussehen? Bleibt das Digitale – oder werden die meisten so schnell es geht zum analogen Kerngeschäft zurückkehren?
Die Infrastruktur, die viele Theater jetzt zwangsläufig anschaffen müssen, bleibt. Viele haben Erfahrungen damit gesammelt, wie es ist, live zu streamen und können sich überlegen, das wieder zu tun – bei ausverkauften Premieren zum Beispiel. Die Erfahrung wird auch sein, dass nicht plötzlich die Geschäftsgrundlage der Theater bedroht ist, nur weil man sich eine Vorstellung auch zuhause ansehen kann. Das Netz ist kein feindlicher Raum. Es ist für uns alle so dermaßen normal, im Internet zu sein – das könnte auch für Theater gelten.
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