Die Ukraine-Krise und das Kriegsjahr 1939: Es gibt keinen „neuen Hitler“
Was können uns die Jahre 1914 und 1938/39 über den heutigen Krieg in der Ostukraine und die russischen Verwicklungen in diesen Krieg sagen? Über Risiken und Nebenwirkungen der historischen Analogien.
In Krisensituationen oder beim Betreten von Neuland bewegt sich die Politik auf einem Feld der Ungewissheit. Alles, was sonst Gewissheit verschafft, fehlt hier: die administrativen Routinen, die rechtlichen Regelungen, die statistischen Prognosen. In der Regel wird dann zur historischen Analogie als Vergewisserungskrücke gegriffen. Das ist nicht ungefährlich, denn Analogien können in die Irre führen und sie bieten weniger Gewissheit als sozialwissenschaftliche Vorhersagen. Es kommt hinzu, dass Analogien fast immer als Oppositionspaar auftreten und die politischen Akteure sich für die eine der seitens der Historiker angebotenen Analogien entscheiden müssen. Die politische Debatte spitzt sich dann auf die Frage zu, welche der beiden Analogien die richtige, zumindest die plausiblere ist.
Das lässt sich auch an der aktuellen Kontroverse über das angemessene Reagieren auf den Krieg in der Ostukraine und die russische Verwicklung in diesen Krieg beobachten. Handelt es sich um eine Entwicklung, die der vom Juli 1914 ähnlich ist, oder haben wir es mit Konstellationen zu tun, die denen der Jahre 1938/39 vergleichbar sind, als Hitler gegenüber den Westmächten austestete, wie weit er mit einer Politik der Erpressung und militärischen Machtdemonstration gehen konnte? Die Schlussfolgerungen, die aus den alternativen Analogien gezogen werden, könnten unterschiedlicher nicht sein.
Die Crux bei historischen Analogien
1914 hat man nicht lange genug verhandelt und ist zu schnell zu einer Politik der Ultimaten übergegangen, bei der es dann, wollte man nicht ‚das Gesicht verlieren‘, kein Zurück mehr gab. Kurzum: Man hatte die militärische Karte viel zu früh ins Spiel gebracht und konnte sie dann nicht mehr herausnehmen. 1938/39, als die deutsche Wehrmacht zunächst in Österreich und dann im Sudetenland einmarschierte und schließlich auch die „Resttschechei“ besetzte, war es umgekehrt: Viel zu lange, so die retrospektive Beurteilung, zögerten die Westmächte, Hitler entschieden entgegenzutreten, ‚rote Linien‘ zu ziehen und diese notfalls auch militärisch zu sichern. Die militärische Karte, heißt das, wurde viel zu spät und zu zögerlich ins Spiel gebracht.
Gegen beide historische Analogien zur aktuellen Situation lässt sich einwenden, sie seien unzutreffend oder zu schematisch und würden die gänzlich anderen Konstellationen heute nicht angemessen erfassen. So gab es 1914 und 1938/39 noch keine Atommächte, und in beiden Fällen ging es um den Einsatz regulärer Armeen und nicht um verdeckte Operationen und Freiwilligenverbände. Das ist die Crux historischer Analogien, dass sie nie genau passen, dass die Vergangenheit nicht die Blaupause der Gegenwart ist, sondern eigene Regeln und Besonderheiten hat. Deswegen sind historische Analogien nur Krücken auf dem Feld der Ungewissheit. Sie können sicheres Wissen nicht ersetzen. Sollte man dann nicht besser ganz auf sie verzichten?
Die Politik darf nicht zum Gefangenen der Analogie werden
Ausschlaggebend bei der Beantwortung dieser Frage ist, wie die verantwortlichen Politiker und das räsonierende Publikum mit historischen Analogien umgehen, ob sie diese als Verlaufsmuster der gegenwärtigen Krise betrachten oder bloß als geschichtliche Exemplifikationen für unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten. Folgt man den Vorgaben des Letzteren, so sind solche Analogien nicht nur unschädlich, sondern können auch hilfreich sein: Man kann an ihnen beobachten, welche Folgen aus welchen Entscheidungen resultieren, wie die Gegenseite reagiert hat, welche Zwänge daraus für die eigene Seite erwachsen sind.
Entscheidend ist hier weniger die Analogie als die politische Klugheit, mit der sie gebraucht wird. Die Politik darf nicht zum Gefangenen der Analogie werden, sondern muss diese benutzen, um sich für die Risiken von Entscheidungen oder Nichtentscheidungen zu sensibilisieren. Man kann aus historischen Analogien durchaus lernen, freilich eher, was falsch und gefährlich als was richtig und problemlösend ist. Wer das nicht beherzigt, fällt leicht den Suggestionen der Analogie zum Opfer.
Geht man mit der Ungewissheitskrücke der Analogie so um, zeigt sich auch eine wesentliche Differenz zwischen dem Vergleich der gegenwärtigen Situation mit 1914 und der von 1938/39. Bei Ersterem wird beobachtet, wie die politischen Akteure damals entschieden haben und wie dies in die politische Katastrophe Europas führte; bei Letzterem dagegen steht die Beobachtung von vornherein unter der Erwartung, alles wäre besser verlaufen, wenn namentlich Frankreich und Großbritannien anders agiert hätten, als sie es getan haben. Ob das wirklich besser gewesen wäre, wissen wir jedoch nicht. Man kann es bloß vermuten. Die Pointe der Analogie ist spekulativ. Womöglich hätte ein anderes Auftreten des Westens nur dazu geführt, dass es früher zum Krieg gekommen wäre. Ob das für Europa besser gewesen wäre, muss dahingestellt bleiben.
Die Suche nach Parallelen in der Antike.
Die gefährliche Wirkmächtigkeit historischer Analogien zeigt deren orientierender Gebrauch während des Ersten Weltkriegs aufseiten der Deutschen. Da damals die Alte Geschichte das höchste Ansehen besaß, suchte man in der Antike nach Parallelen, um sich über Verlauf und Ausgang des Krieges Gewissheit zu verschaffen.
Dabei konkurrierten der Peloponnesische Krieg aus athenischer Sicht und die Punischen Kriege Roms als Leitanalogien. Wer auf den Peloponnesischen Krieg setzte – vom Historiker Thukydides als Lehrbeispiel für die Nachgeborenen beschrieben –, der plädierte für eine politische Defensivposition Deutschlands, für den Verzicht auf annexionistische Kriegsziele und gegen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der zum Kriegseintritt der USA führen musste. Er betrachtete den Krieg im Hinblick auf die Fehler Athens, die von den Deutschen nicht wiederholt werden sollten.
Wer den Ersten Weltkrieg dagegen im Spiegel der Punischen Kriege sah – was damals die meisten taten –, der warnte vor jeder Kompromisssuche gegenüber den Briten. Denn der römische Friedensschluss mit Karthago am Ende des Ersten Punischen Krieges habe den Zweiten Punischen Krieg zur Folge gehabt, in dem Rom dann am Rande des Abgrunds stand. Die Schlussfolgerung aus dieser Analogie lief auf die Erklärung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs und möglichst weitreichende strategische Annexionen hinaus. Wir wissen heute um die verhängnisvollen Wirkungen dieser Analogie. Nicht deren Triftigkeit war relevant, sondern die politischen und militärischen Konsequenzen. Die weltweit hochgelobte Gilde der deutschen Historiker hatte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als bar jeder politischen Klugheit erwiesen.
Vom "Lernen aus der Geschichte"
Wenn man daraus etwas lernen kann, dann zumindest dies, dass die historische Analogie ein politisch viel zu gefährliches Feld ist, um es allein den professionellen Historikern und ihrem Sachverstand zu überlassen. Dass in Konstellationen gesteigerter Ungewissheit auf historische Beispiele zurückgegriffen wird, scheint unvermeidlich zu sein. Die mitunter überstrapazierte Redewendung vom „Lernen aus der Geschichte“ zwecks Vermeidung von Wiederholungszwängen nötigt gerade dazu.
Man müsste hinzufügen, dass das kein schematisches Lernen sein darf, sondern eines, das mit politischer Klugheit und strategischer Intelligenz angereichert ist – und beides lernt man nicht aus den Analogien selbst. Ein derart belehrter Umgang mit Analogien sucht nicht nur nach Ähnlichkeiten, sondern immer auch nach Unterschieden. Dadurch vermindert man das Risiko, zum Gefangenen der Analogie zu werden. Und was heißt das nun im Hinblick auf Putin und die Ostukraine? Dass es ein Fehler ist, in jeder größeren Krise gleich nach einem „neuen Hitler“ Ausschau zu halten. Denn auch so kann man zum Gefangenen seiner Geschichte werden.
Herfried Münkler, 63, lehrt Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien sein Buch Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918 (Rowohlt Berlin).
Herfried Münkler