Raddatz-Tagebücher: „Es geht mir nicht gut. Hinzu kommt der Krieg.“
Spielte der Publizist Fritz J. Raddatz in früheren Jahrgängen seiner pathologisch boshaften Tagebücher noch mit deren Inszeniertsein, macht er in der jüngsten Ausgabe der Jahrgänge 2002 bis 2012 nur noch Show. Zur Erhellung der Gegenwart taugt das nicht.
Wenn man so gehässig über Fritz J. Raddatz sprechen würde, wie er in seinen Tagebüchern über andere herzieht, hätte man sofort den Presserat am Hals. Aber auch der nüchternste Charakterbefund ergibt nichts Schmeichelhaftes. Laufende Selbsterhöhung durch hartnäckige Erniedrigung von Freunden und Kollegen. Krankhafte Geltungssucht bei notorisch gekränkter Eitelkeit. Mangelndes Einfühlungsvermögen bei mimosenhafter Empfindlichkeit in eigenen Angelegenheiten. Galoppierende Klatschsucht bei fortschreitender Gedankenarmut.
Dies alles war im ersten Teil der Tagebücher, der die Jahre 1982 bis 2001 umfasste, schon angelegt. Doch das Ganze war ein unterhaltsames Soziogramm des Hochkulturbetriebs in der alten Bundesrepublik. Eine anekdotenreiche Belehrung darüber, dass in den vermeintlich goldenen Zeiten des Feuilletons hinter den Kulissen auch schon ein einziger Intrigantenstadl tobte. Allerdings durften sich die Beteiligten ihrer Bedeutung noch dadurch sicher fühlen, dass sich die Schleusen zum digitalen Mitmachjournalismus noch nicht geöffnet hatten. Im heimischen Affenstall war jeder ein König.
Im zweiten Teil, der die Jahre 2002 bis 2012 umfasst, regiert nur noch nur der persönliche Groll. Der „Endlosfortsetzungsroman ,Verkommenheit des Literaturbetriebs‘“, den der mittlerweile 82-jährige Raddatz hier schreibt, ist die Rache des großen Mannes an der schnellen Vergänglichkeit seines Ruhms. Er, der „einst auf den grandiosesten internationalen Podien Auftauchende“, kreist immer noch obsessiv um die Jahre 1976 bis 1985, in denen er das Feuilleton der „Zeit“ leitete, bis er über ein falsches Goethezitat stolperte – so der offizielle Grund seines bis heute nicht verschmerzten Rauswurfs.
Wäre der 700-seitige Jammerbrocken dieses Jammerlappens ironischer angelegt – die Dauerlamentatio ließe sich vielleicht aushalten. Das Eingeständnis, er habe „summa cum laude in Hypochondrie promoviert“, ist aber nur ein koketter Zwischenfall inmitten von weinerlich aufgelisteten Zipperlein, die sich zur Beleidigung seiner narzisstischen Makellosigkeit fügen. Hier geht es geradewegs auf die Grube zu. In allem hört Raddatz ein „nevermore“ – das „Lied vom Nicht-loslassen-Können, dessen Endreim Tod ist“.
Ringsherum fordert das Alter seine Opfer, und so schrumpft das aktive Personal dieses Bandes trotz eines fast 20-seitigen Personenregisters allmählich auf ein geriatrisches Horrorkabinett zusammen. Rolf Hochhuth, Peter Rühmkorf, Günter Grass, Joachim Kaiser, Peter Wapnewski, Joachim Fest oder Walter Kempowski – sie sind das trübe Licht seiner späten Tage: ähnlich gequälte Weggefährten, mit denen er sich überwirft und manchmal wieder versöhnt. Für positive Kontinuität sorgen nur der Malerfreund Paul Wunderlich, die Herzensdame Ruth Pisarek und der Lebensgefährte Gerd Bruns.
Fritz J. Raddatz ist ein Helmut Berger des Feuilletons: ein schwuler Pfau, dem die Federn ausgegangen sind und der das lästermäulig kompensiert. Je weniger er gefragt ist, desto mehr stilisiert er sich zum letzten Unangepassten des Betriebs, der von anderen ständig „Anstand“ und „Manieren“ fordert, ohne selber darüber zu verfügen. Einen Essay von Jürgen Habermas über die USA kommentiert er so: „Leider spricht Habermas nicht nur, sondern schreibt auch noch mit einer Hasenscharte: Sein Geschreibsel ist, wie fast immer, unlesbar – dadurch, durch Stottern, erntet man in Deutschland ja Ruhm; Lesbarkeit, eleganter Stil: Das ist ,französisch‘, also verdächtig.“
Klar, dass er als Élégant eine Enttäuschung nach der anderen erlebt. Vorabdruck-Versprechungen, die nicht gehalten werden. Anfragen von Redaktionen, die nie wieder auf ihn zukommen. Eingaben seinerseits, die ins Leere laufen. Von Verlagen kein Dank für seine Rezensionen. Und die Hoffnung, Michael Krüger werde ihm 2005 den Börne-Preis zusprechen, zerstört er selbst: „MIR nicht.“ Er sollte recht behalten.
Honorare mau - und keiner zahlt den Schampus
Dazu kommt die ewige Klage, dass sich die Leute, die er trifft, weder nach seinem Befinden erkundigen noch die Zeche zahlen. Ein Treffen mit Jürgen Flimm endet mit der Bemerkung: „Eines tat er nicht. Fragen ,Wie geht es dir‘ – und zahlen.“ Eines mit Rowohlt-Verleger Alexander Fest, der Raddatz zu seinen Memoiren „Unruhestifter“ gratuliert, resümiert er: „Dann verabschiedet er sich mit einem ,Nun trinken Sie 1 Glas Champagner auf Ihr Buch‘: Auf die Idee, dass ER mir evtl. 1 Fl. Champagner schicken dürfte/sollte/könnte/müsste, KOMMT er gar nicht: Ja, ja, ich kann mir jeden Champagner der Welt selber kaufen und entkorken – aber dass er nicht auf die GESTE kommt, NACH Lektüre dieses Kapitels ...“.
So ergeht es ihm immer wieder. Allerdings: „Wozu noch sparen? Wozu noch da einem 750-Euro-Honorar und dort einem von 2000 hinterherlaufen? So sieht ja im Moment mein Berufsleben aus, 200 hier, 500 dort.“ Dagegen stehen die Kosten eines Champagner-und-Kaviar-Daseins mit Wohnsitzen in Hamburg, Nizza und auf Sylt: „Ich WILL nicht verkommen und/oder auf T-Shirt und Jeans-Niveau absinken, coûte que coûte.“
Wenn aber mal das Honorar stimmt, hakt es woanders: „ETWAS besser bezahlt, zu Lesungen wie der vorgestrigen in Kiel, wo man mich nach der Mittagslesung ab 15.30 Uhr mit einem ,Dann sehen wir uns um 20 Uhr‘ durch die fremde, eisige Stadt trollen lässt, kein ,Tages-Zimmer‘, um mich auszuruhen, das Museum ärmlich kärglich, kein Kino weit und breit, nix außer Karstadt, Woolworth und Brenninkmeyer, dann vor ein paar Schlafenden die Abend-Lesung, rasch zum verdreckten Interregio, Mitternacht fix und fertig zu Hause: das mit 72! Ich darf mir so was nicht mehr antun, nur um 4 Tage Paris und die Austern in der Coupole zahlen zu können, zumal ich sie SOWIESO zahlen könnte.“
Aber auch Paris, wo er im schönen Hotel Lutetia residiert, behandelt ihn herzlos. „NUR schlechtes Essen, und zwar in den renommiertesten Restaurants wie Récamier oder Chez Francis, wo das Fleisch verbrannt oder roh, die Saucen wie in Schlesien auf dem Bauernhof, der Wein entweder nie oder andauernd nachgeschenkt und die Aschbecher, überquellend, partout nicht geleert werden.“
Kein Linker muss im härenen Gewand gehen, doch Raddatz’ Ärger über die Verkommenheit der Welt klingt heuchlerisch, und was er zur Kriegstreiberei von George Bush jr. gegen den Irak zu sagen hat, ist reiner Sessellehnenpazifismus. Typisch die Eintragung: „En bref: Es geht mir nicht gut. Hinzu kommt der Krieg.“ Man kann nie sicher sein, wo bei Raddatz das Weltgewissen aufhört und die private Migräne beginnt.
Die besondere Schwierigkeit dieser Tagebücher besteht darin, dass Raddatz sie vor allem zur Vertragserfüllung geschrieben hat. Wo er im ersten Teil auf halber Strecke bekannte, dass er die Rechte an seinen Journalen lukrativ verkauft habe und einen Moment darüber nachdenkt, was das für ihren Charakter bedeutet, da inszeniert er sich jetzt nur noch vor Publikum. Das heißt aber auch, dass man seine intim anmutenden Aufzeichnungen als Text wie jeden anderen kritisieren darf.
Es ist nicht so, dass Raddatz’ Mitteilungen grundsätzlich unglaubwürdig wären. Von Joachim Kaiser heißt es, dass er „vor Selbstgefälligkeit und Wohlwollen sich selber gegenüber“ nur so strotze. Über Walter Kempowski, er sei ein „brävlicher Reaktionär“. Moritz Rinke erscheint als Produzent „leicht gezuckerter Soufflés, hochgeblasen. Eigentlich nur Schülerzeitungs-Klassenwitze vor Eingeweihten.“ Peter Wapnewksi wird als kleinlicher, eitler Greis gezeichnet. Joachim Fest sagt Raddatz glückliche außereheliche Affären nach – und Václav Havel ein Westkonto noch vor dem Mauerfall. Doch ist es weltbewegend, dass viele Säulenheilige profane Neigungen pflegen?
Für Raddatz spielt es keine Rolle, ob ihrem egomanen Hochmut ein differenzierter zu beurteilendes Werk entsprungen ist. Mit bestenfalls maliziösem Wohlwollen macht er jeden klein: ob es um einen seit langem unbedeutenden Autor wie Rolf Hochhuth geht, oder um Peter Rühmkorf, einen der größten Dichter, den die Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten. Den Unanständigen brät er ebenso eins drüber wie den Anständigen – was in diesem Fall nur heißt: denjenigen, die sich stets loyal zu ihm verhielten. Ulrich Greiner, in seiner Nachfolge Feuilletonchef der „Zeit“, bekommt zum 60. Geburtstag, den Raddatz eifrig mitgefeiert hat, die Bemerkung geschenkt, ob er „nach den obligatorischen Lobreden auf den ,großen und bedeutenden‘ Kritiker (…) das denn WIRKLICH war/ist, ob seine Stimme im Chor der Bestimmenden zählt. Je m’en doute.“ Das ist nicht das feine französische Florett, das ist die deutsche Klobürste.
Im Großen und Ganzen aber gilt: Wie wenig taugt das alles zur Erhellung der Gegenwart. Das schwant auch ihm. „Ich bin aus der Welt gefallen. Ganze, offenbar WESENTLICHE und den heutigen Alltag prägende Worte, Begriffe, Satzteile kann ich nicht mehr verstehen (...). Ich weiß nicht, was ein iPad, ein iPod, ein iPhone ist und warum etwas in einer ,Cloud‘ verschwinden kann (..) Zahllose Namen (...) sind mir Hekuba, ich habe keine Ahnung, was eine ,Lady Gaga‘ tut, singt sie? Tanzt sie? (...) Ich bin, was Schauspieler, Sänger angeht, ganz offensichtlich stehengeblieben bei Kortner oder Gründgens oder Marlene, gerade noch reicht es zu den Beatles oder zu dem kleinen Michael Jackson – und dann ist Filmriss bei mir.“
Der Paukenschlag ereignet sich auf Seite 431. Raddatz teilt mit, dass er an Krebs erkrankt sei. Knapp 100 Seiten später spezifiziert er die Diagnose zu Prostatakrebs. Ist das die schonungslose Aufrichtigkeit des Diaristen? Oder der Versuch, sich unangreifbar zu machen? Es ist an dieser Stelle jedenfalls zu spät, an einem Schicksal Anteil zu nehmen, von dem sich schließlich herausstellt, dass es auf einem ärztlichen Irrtum beruht. Keine Frage: Niemand will sterben. Es ist nur eben unvermeidlich. Aber dafür, nicht so verbittert alt zu werden wie Fritz J. Raddatz, lässt sich eine Menge tun.
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