Kultur: Erobern und vernichten
Der Anfang vom Ende: Vor 70 Jahren begann das „Unternehmen Barbarossa“, der Überfall auf die Sowjetunion
Immer wieder ist dieses Bild beschworen worden: Wie im allerersten Morgengrauen des 22. Juni 1941 auf dem Grenzfluss Bug, der seit dem Spätherbst 1939 das Deutsche Reich von der Sowjetunion trennte, die Enten aufschreckten, als plötzlich die Wehrmacht losstürmte und die Vorposten der Roten Armee überrannte, während noch ein letzter Güterzug voller Getreide über die Brücke gen Westen rollte. In dieses Bild vom vertragstreuen und schmählich überfallenen Sowjetland und dem wortbrüchigen und kriegslüsternen Nazi-Reich ist der Auftakt zum „Unternehmen Barbarossa“ im kollektiven Gedächtnis gefasst. Es ist ein Bild aus der Rückschau; aus der Kenntnis dessen, was an jenem sommerwarmen 22. Juni seinen Ausgang nahm, aus der Kenntnis des millionenfachen Todes, der totalen Zerstörung und des unvorstellbaren Mordens auf dem Weg nach Osten, den Adolf Hitler, der „Führer und Reichskanzler“, doch seit 20 Jahren als sein Lebensziel beschworen hatte.
Das „Unternehmen Barbarossa“, der Überfall auf die Sowjetunion – er wurde alles andere als das „Sandkastenspiel“, das Hitler seinen Generälen versprach, als er im Siegesrausch des Sommers 1940 den Blick auf die Eroberung von „Lebensraum im Osten“ warf. Kurz nach der Niederwerfung Frankreichs fasste Hitler den Entschluss zum Angriff auf die Sowjetunion, zur Überraschung sogar seiner eigenen Generäle, die er am 31. Juli auf dem Obersalzberg versammelte. Es war „eine weit reichende Entscheidung, vielleicht die weit reichendste des gesamten Krieges“, wie Ian Kershaw urteilt, einer der besten Kenner der NS-Geschichte. Es war, wie die Deutschen am 8. Mai 1945 bitter erkennen mussten, der Anfang vom Ende nicht nur des Nazi-Regimes, sondern des Deutschen Reiches und des Nationalstaats überhaupt.
Die unglaublichen Anfangserfolge schienen Hitler recht zu geben. Mit drei Millionen deutschen und einer halben Million verbündeter Soldaten wurden die Grenzen ab 3 Uhr 15 früh auf einer Länge von 1600 Kilometer überrannt. Görings Luftwaffe schaltete die sowjetischen Flugzeuge bereits am Boden aus, bereits am ersten Tag zerbombten sie 66 Flugplätze. 3600 Panzer rollten voran, 600 000 Motorfahrzeuge, 700 000 Geschütze folgten. Es war „die größte Invasionsstreitmacht, die in der bisherigen Menschheitsgeschichte aufgestellt worden war“, bilanziert der Cambridge-Historiker Richard J. Evans in seiner dreibändigen Geschichte über „Das Dritte Reich“. Der Vormarsch erfolgte derart schnell – bis zu 50 Kilometer am Tag –, dass die Infanterie kaum und bisweilen gar nicht hinterherkam. Der Feldzug, klagte ein General an der Front, „bedeutet für uns laufen, dass die Zunge heraushängt, immer laufen, laufen, laufen“.
Die Überlegenheit der Invasoren ist erstaunlich genug. Denn die Ostarmee „entsprach keinesfalls dem Bild der Wochenschau von der Wehrmacht als motorisierter Blitzkriegsarmee“, schreibt Rolf-Dieter Müller im maßstabsetzenden „Handbuch der deutschen Geschichte“: „Die Mehrzahl der Soldaten marschierte wie weiland Napoleons Grande Armée zu Fuß, begleitet von Pferd und Wagen.“
Demgegenüber befand sich die Sowjetarmee nach den fürchterlichen „Säuberungen“ des Großen Terrors von 1937/38, denen fast das gesamte Offizierskorps zum Opfer gefallen war, in einem nicht kriegsfähigen Zustand. Die Rote Armee sei ein „Witz“, belustigte sich Hitler. Zahlenmäßig der Wehrmacht zwar ebenbürtig, nach Stand ihrer Rüstung teilweise sogar überlegen, besaß sie anfangs keinerlei Verteidigungsstrategie und lief führungslos in die von der Wehrmacht gestellten Fallen. In den Kesselschlachten des Spätsommers 1941 ergaben sich hunderttausende Rotarmisten, allein vor Smolensk oder Kiew jeweils 600 000. Da nütze auch Stalins wutschäumende – und zigtausendfach wahr gemachte – Drohung nichts, jeden Gefangenen im Falle der Rückkehr als „Verräter“ erschießen zu lassen. Dem sowjetischen „Woschd“, zu Deutsch „Führer“, blieb nichts anderes übrig, als die im Gulag gefangenen Überlebenden der Säuberungswelle herauszuholen und als Kommandeure an die Front zu schicken.
Die gefangenen Rotarmisten sollten bald zu den Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zählen. Während unmittelbar hinter der auf Leningrad, Moskau und Kiew in drei gewaltigen Stoßkeilen vorrückenden Front die „Einsatzgruppen“ der SS ihr mörderisches Handwerk verrichteten und Juden auf jede erdenkliche Weise abschlachteten, wurden die Kriegsgefangenen von der Wehrmacht dem Tod durch Hunger und Seuchen preisgegeben. Generalfeldmarschall Bock, Kommandant der Heeresgruppe Mitte und ein Offizier preußisch-nationaler Tradition, entsetzte sich im Herbst 1941 über die endlosen Kolonnen von Kriegsgefangenen: „Todesmatt und halb verhungert wandern diese Unglücksmenschen dahin. Zahlreiche Tote und Erschöpfte sind am Wegesrand zusammengebrochen.“ Doch für die Gefangenen einzutreten, kam ihm nicht in den Sinn. Ähnlich Generalstabschef Franz Halder: „Täglich Abgang von zahlreichen Gefangenen durch Hungertod. Grauenhafte Eindrücke.“ Von 5,7 Millionen gefangenen Sowjetsoldaten sind in den deutschen Lagern mehr als drei Millionen umgekommen. Sie galten der NS-Ideologie als „slawische Untermenschen“. Nahrungsmittel wurden immer knapper. Was die besetzten Ländereien hergaben, kam der Wehrmacht zugute, die bereits im August erhebliche Nachschubschwierigkeiten hatte. Hofften die von der von millionenfachem Tod begleiteten Zwangskollektivierung erschütterten Bauern der Sowjetunion anfangs noch auf Befreiung durch die Wehrmacht, so wurde ihnen schnell deutlich, dass die deutsche Kriegsführung – mit Hitlers Worten vom Juli 1941 – darauf abzielte, „den riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können“.
Stalin, der sich in Hitler gegen alle Warnungen vollständig getäuscht sah, erklärte bereits in seiner ersten Rundfunkansprache am 3. Juli 1941, nachdem er bis dahin paralysiert geschwiegen hatte: „Der Feind ist grausam und unerbittlich. Wir werden sterben oder siegen.“ Noch war das Kriegsglück mit der Wehrmacht. Die Spitzen der Panzerbataillone rückten Ende November bis auf 20 Kilometer an Moskau heran. In der Hauptstadt brach Panik aus, die Regierung floh ostwärts. Doch da setzte der Winter ein, „General Winter“, wie ihn die Landser verfluchten, mit Temperaturen von minus 40 Grad und ohne warme Kleidung für die Soldaten. Gefallenen Rotarmisten wurden als Erstes die Stiefel ausgezogen.
Anfang Dezember startete die Rote Armee die erste Gegenoffensive. Aus dem Blitzkrieg, wie ihn die Wehrmacht zumal 1940 mehrfach so scheinbar mühelos hatte führen können, wurde vor Moskau ein Stellungs- und Abnutzungskrieg. Dafür waren die deutschen Truppen nicht gerüstet, da half auch keine Kleiderspende beim Winterhilfswerk „im Reich“. Am 7. Dezember griff Japan die USA in Pearl Harbor an, am 11. Dezember erklärte Hitler den Vereinigten Staaten den Krieg – in einer Übersprunghandlung, denn die USA mit ihrem schier unerschöpflichen Industriepotenzial aus dem Krieg herauszuhalten, war doch bis dahin ein angstvoll verfolgtes Ziel der deutschen Politik gewesen. Jetzt gab es überhaupt keine Politik mehr, sondern nur noch den Größenwahn Hitlers und die Mordmaschinerie der SS, an deren Verbrechen die Wehrmacht höchst bereitwillig beteiligt war. „Tatsache bleibt“, urteilt der Wissenschaftliche Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Potsdam, Rolf-Dieter Müller, „dass seit Juni 1940 in Berlin kein Präventivkrieg gegen eine akute Bedrohung durch die UdSSR geplant wurde, sondern ein verbrecherischer Raub- und Eroberungskrieg“.
Im vierjährigen Ringen zwischen Wehrmacht und Roter Armee verloren allein elf Millionen Soldaten ihr Leben. In einer eindringlichen Ausstellung erinnert das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst in 24 ausgewählten Biografien an die Schicksale von Soldaten, Generälen, Krankenschwestern und Zwangsarbeitern (Zwieseler Str. 4, bis 14. August, Katalog 19,90 €). Dass die Wehrmacht nicht einfach Krieg geführt, sondern bei den Verbrechen der SS-Einsatzgruppen mitgemacht oder gar aus eigenem Antrieb gehandelt hat, musste die bundesdeutsche Gesellschaft in den 1990er Jahren erst unter Mühen erkennen. Dabei hatte das Militärgeschichtliche Forschungsamt in seiner maßgebenden Publikation „Der Angriff auf die Sowjetunion“ bereits 1983 geurteilt, es sei ein „Zerrbild der Wirklichkeit, dass nur die SS den Todesstoß gegen das Wahnbild des ,jüdischen Bolschewismus’ geführt und die Wehrmacht sich auf die Führung der Operationen beschränkt habe“.
Doch der Angriff auf die Sowjetunion, mochte er auch von Hitler allein befohlen worden sein, kam nicht aus heiterem Himmel. Die deutschen Eliten waren sich in der Verachtung Russlands seit jeher einig. Der Schritt zum ausdrücklichen Vernichtungswillen war nirgends weit. Nicht wenige träumten von Großgrundbesitz in den besetzten Ländern, wozu sich die materiell begünstigte Generalität gern hinreißen ließ. So erhielt der legendäre Panzergeneral Guderian, der wesentlich am Angriffsplan mitgewirkt hatte, noch 1943 ein 1000 Hektar großes Rittergut als „persönliches Geschenk des Führers“.
Bedenken hinsichtlich der eigenen Kampffähigkeit wurden im Kasinoton beiseite gewischt, taktische Rückzüge zum Schutz der eigenen Soldaten als „Feigheit vor dem Feind“ geahndet; das hatte selbst Guderian erleben müssen.
Der als „Nichtangriffsvertrag“ deklarierte Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 mit seinem geheimen Zusatzprotokoll über die Aufteilung von Eroberungsgebieten, hatte Europa als bloße Verfügungsmasse behandelt. Unter dem brüchigen Frieden, den der Pakt beiden Seiten gewährte, wurde auch sowjetischerseits die Aufrüstung enorm forciert. Hitlers wiederholte Hinweise auf das knappe Zeitfenster, das ihm für seine Pläne zur Verfügung stünde, sind keine bloße Chimäre. Genauso dachten auch die Militärs. Die totale Ausbeutung, wie sie SS-Chef Himmler im „Generalplan Ost“ ausarbeitete, lag vor Kriegsbeginn außerhalb ihrer militärischen Denkweise. Als es dann aber 1941 so weit war, stellten sie sich willig und oft in vorauseilendem Gehorsam in den Dienst aller Eroberungs- und Vernichtungspläne.
Das „Unternehmen Barbarossa“ gelangte, militärstrategisch betrachtet, bereits Anfang Dezember 1941 mit dem Rückschlag vor Moskau an seinen Wendepunkt, wenn es nicht bereits früher „operativ gescheitert“ war, wie die Militärhistoriker bereits 1983 nüchtern urteilten. Die größte territoriale Ausdehnung erreichte die deutsche Besatzung zwar erst im folgenden Sommer, aber auf Kosten einer völlig überdehnten Frontlinie, die nicht zu halten war, ja durch Materialausfall und Nachschubmangel vielerorts von selbst zerfiel. Die Niederlage von Stalingrad im Februar 1943 wurde weniger zum militärischen als vielmehr zum psychologischen Fanal des Untergangs, das alle verstanden, die Soldaten wie die Angehörigen zu Hause. Der Krieg war verloren. Aber begonnen hatte der Untergang in der Dämmerung des 22. Juni 1941.
Bernhard Schulz
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