Ausstellung: Ernst Jandl: Der Scheinchaot
Mit demselben experimentellen Freiheitspathos, mit dem er sichin und zwischen den Sprachen bewegte, überschritt er auch die Grenzen von Dichtung, bildender Kunst und Musik. Poesie, ausgestellt: "Die Ernst-Jandl-Show" im Berliner Literaturhaus.
Auch Indira Gandhi, die spätere indische Ministerpräsidentin, soll unter den 7000 Menschen gewesen sein, die sich an einem Juliabend des Jahres 1965 zu einem Poetry-Slam in der Londoner Royal Albert Hall versammelt hatten. Mehr noch als von harten und weichen Drogen hatte sich die Masse an sich selbst berauscht. Seit fast drei Stunden fieberte man dem Höhepunkt des Abends entgegen: Allen Ginsberg sollte als Letzter auftreten. Davor war noch ein unbekannter Österreicher an der Reihe. Auf die Bühne kam ein rundlicher, bebrillter Mann mit Hosenträgern, schon optisch das Gegenteil eines Beatniks. Als er dann auch noch begann, in aggressivem Feldherrn-Stakkato, wild gestikulierend, auf Deutsch zu deklamieren, wurden Buhrufe laut.
Das auf Anti-Vietnam- und Liebeslyrik eingestimmte Publikum wusste nicht, was es mit dem – wie es hieß – „Hitlarian aspect“ dieses Vortrags anfangen sollte. Erst als der damals 40-jährige Ernst Jandl seine „Ode an N“ anstimmte (ein Gedicht, für das er lediglich die Buchstaben N.A.P.O.L.E.O.N. verwendete), wurde allen klar, dass er die Sprechmaske der politischen Verführer persiflierte. Die Menge jubelte und stimmte in den Vortrag ein.
Jandl, der Ginsberg vor fast einem halben Jahrhundert die Show stahl, hat seit kurzem eine eigene im Berliner Literaturhaus. In Wien wurde „Die Ernst-Jandl-Show“ bereits im vergangenen Winter gezeigt, genau zehn Jahre nach Jandls Tod. Jetzt bekommt man die entschlackte Version zu sehen, ein Best-of aus Platzgründen. Dazu gehört auch das Filmdokument aus der Royal Albert Hall. Der Live-Mitschnitt, der direkt im Eingangsraum gezeigt wird, wirkt wie eine Art Dämonenaustreibung. Denn wer sich Jandls fulminante Performance vor einer johlenden Menge ansieht, den verlassen schlagartig jene Geister, die seit Schulzeiten flüstern, dass Jandl doch eigentlich ein Deutschbuch-Humorist und „Ottos Mops“ des Lehrers liebstes Beispiel für Konkrete Poesie sei.
Allerdings wird es Jandl kaum gestört haben, als man in den siebziger Jahren begann, seine Gedichte für den Unterricht zu kanonisieren. Zum einen war er selbst Lehrer an einem Wiener Gymnasium, zum anderen lehnte er jeden elitären Gestus ab. Mit seinem „heruntergekommenen Deutsch“ machte er fehlerhafte Sprachformen literaturfähig, experimentierte mit Dialekten, Alltags-, Kindersprache und verfasste Lautgedichte, die überall auf der Welt verständlich sind. Von Jandls radikalem Gestaltungswillen zeugen auch seine Übersetzungen der Prosa Gertrude Steins. Englisch war für ihn seit seiner Jugend das Idiom der Freiheit, und in der Amerikanerin Stein sah er die geistige Mutter seines Werks. Im deutschen Sprachraum könne ihr allenfalls der dadaistische Tausendsassa Kurt Schwitters das Wasser reichen, dicht gefolgt von Hugo Ball. Jandl fühlte sich verschiedenen avantgardistischen Strömungen nahe, ohne sich einer bestimmten Programmatik zu verschreiben. Die Wiener Gruppe etwa akzeptierte ihn trotz regelmäßiger Streitereien offiziell als „Onkel“.
Mit demselben experimentellen Freiheitspathos, mit dem sich Jandl in und zwischen den Sprachen bewegte, überschritt er auch die Grenzen von Dichtung, bildender Kunst und Musik. Nach exakten Mustern verteilte der passionierte Jazzfan Wörter, Silben und Laute, umkreiste immer wieder ein bestimmtes Thema, seine Texte gleichen Partituren. Den Vortrag seiner Gedichte studierte er mit dem Metronom ein.
In einer ausgefeilten Zusammenstellung aus Tönen, Bilden, Texten, biografischen und zeithistorischen Dokumenten haben es sich die Kuratoren Bernhard Fetz und Johannes Schweiger zum Ziel gemacht, der Vielschichtigkeit des Sprachspielers gerecht zu werden. Es ist ihnen nicht zuletzt deshalb gelungen, weil die Ausstellung neben dem aggressiven Witz und der anarchischen Wucht Jandls einen Ordnungswillen freilegt, den er stets zu verbergen suchte, wenn er scheinchaotisch Konsonanten und Vokale tanzen ließ. Er führte akribische Wortlisten, um einen Vorrat für seine Gedichtproduktion bereitzuhalten. Auch privat listete er alles auf, Einkäufe, Reisegepäck, Medikamente, Kücheninventar.
Abgesehen von den Krimis, die er massenweise las, hatte Jandl nichts übrig für episches, chronologisches Erzählen, schon gar nicht für das Schreiben seiner Autobiografie. Was er von sich selbst in sein Werk einfließen ließ, hat er penibel einer verfremdenden Wahrnehmung unterzogen. Er verwendete die „Inhalte seines eigenen Lebens, um daraus alles andere zu machen, nur nicht Autobiografie“. Die Symbiose mit dem Publikum, wie einst die „wholly communion“ in London, hat er stets genossen. Ansonsten wahrte er Distanz. Friederike Mayröcker, die Dichterin und Gefährtin Jandls, sagte einmal, sie hätten einander ihre Einsamkeit gelassen. Die wird man ihm auch jetzt nicht nehmen und lernt ihn dennoch etwas besser kennen.
Literaturhaus Berlin, bis. 17. Juli. Di bis So, Feiertag 11–19 Uhr. Umfangreiches Rahmenprogramm unter www.literaturhaus-berlin.de
Marianna Lieder