Theater: Erinnerung, stich!
Heiner Müller im Anzug: Dimiter Gotscheff inspiziert am Deutschen Theater Berlin die "Hamletmaschine".
Vor den Staaten zerfallen die Stücke. März 1990: Am Deutschen Theater Berlin hat Heiner Müllers „Hamlet/Maschine“ Premiere in der Regie des Autors, eine achtstündige Mixtur aus Shakespeare, dem sächsischen Sophokles und einer Realität, vor der Müllers Revolutionsgespenster längst geflohen sind. Im Zentrum des Bühnensturms steht Ulrich Mühe, zart wie Chaplin. Zwei Jahre zuvor, da lebte die DDR noch, liest Mühe im Westen, im Hebbel-Theater, Müllers „Hamletmaschine“. Auch das schon ein Endspiel. Oder Vorspiel.
In diesem Sommer starb Ulrich Mühe, der intelligenteste Schauspieler seiner Generation. Dass er zuletzt so erfolgreich im Fernsehen einen Gerichtsmediziner („Der letzte Zeuge“) spielte, hätte Heiner Müller gefallen. Wie auch immer man die „Hamletmaschine“ liest – als Vivisektion des Autors am eigenen Text, als Installation –, die Erinnerung an Ulrich Mühe bleibt diesem kurzen Drama eingeschrieben. Der Abschied von der Utopie – auch ein Abschied vom Theater. Mühe, Müller, eine deutsche Theatergeschichte.
Ohnedies ist es ein historisch aufgeladener Abend in den Kammerspielen des DT, wenn Dimiter Gotscheff, der „Regisseur des Jahres“ 2007, jetzt die „Hamletmaschine“ inszeniert – und mit ihr, in ihr, neben ihr auf der Bühne steht. Den 64-jährigen Bulgaren verband mit Müller eine lange Arbeitsbiografie und Freundschaft. Durch seine hochgerühmte „Perser“-Inszenierung des Deutschen Theaters weht Müllers Geist: das Komische der Katastrophe.
Und so kommt uns Gotscheff als Clown entgegen, im schwarzen Anzug mit langem grauen Haar, auf Mark Lammerts schwarzer Bühne, die ein aufgeräumter Friedhof ist, mit offenen Gräbern. Gotscheff intoniert seinen alten, untoten Hamlet eindringlich, leise; man muss ja erst einmal wieder lernen, solchen Texten zuzuhören. Die Stimme ist sonor, ein wenig brüchig, genussmittelschwanger, Gotscheff klingt wie Willy Brandt. Mehr Müller wagen!
Mitko, wie sie ihn nennen, wandert ruhelos umher, gemessenen Schritts. Rauft sich das Haar wie ein Trauerweib, wirft sich in deklamatorische Pose. Strahlt Würde aus und den Witz eines Philosophen, dem der große Zusammenhang abhandengekommen ist. Die „Hamletmaschine“ ist nicht zu reparieren: bei ihrer Entstehung 1977 in Bulgarien, wo Müller nach seinen eigenen Worten „herumsaß“, schon ein leuchtendes Wrack, ein Schrottplatz. Die stalinistischen Säuberungen der 50er Jahre, Ungarnaufstand, RAF-Komplex, ein etwas altmännerhaft erotisierender Feminismus, strukturalistische Modewendungen (Deleuze/Guattari): All das klumpt sich, implodiert auf wenigen Manuskriptseiten. Ein Bericht zur Lage der Nationen, dreißig Jahre alt – gefühlte dreihundert! Und doch . . .
Dimiter Gotscheffs große, feine Kunst bringt es fertig, diesen überwachsenen Nibelungenschatz zu heben. In diesem Kraftakt liegt ein Bedauern, dass die Welt damals, so schreckensreich Müller sie auch malte, eine übersichtlichere war. Der Kapitalismus, der noch nicht gesiegt hatte, war der gute Feind, und der böse Freund war der Kommunismus – weil er sich selbst zerfleischte, etwas ist faul im Sowjetstaat. Man kann es auch anders betrachten, ausgehend von dem berühmten Satz des Hamletmaschinisten: „Im Rücken die Ruinen von Europa.“Dann wäre Müllers Zeit noch nicht gekommen, stünde Hamlets Abdankung – und mit ihm das Ende der westlichen Zivilisation – noch bevor. Diese Stücke spielt heute das Hollywoodkino.
Gotscheff aber öffnet Denkräume. Die Konzentration, die er beschwört, ist ein hoher Wert. Das macht sein Theater zu einer Besonderheit. Seine Schwäche liegt in einer gewissen Inkonsequenz. Er lässt, am Anfang und am Ende, zwei junge Schauspieler auftreten, will eine Art „Aktualität“ herstellen. Alexander Khuon zelebriert lächelnd einen Text von herzlosen Bankmanagern, Maschinenmenschen. Valery Tscheplanowa schreit sich Ophelia/Elektra aus dem Leib. Sie im goldenen Kleid, der Junge im roten Pullover, Gotscheff in seinem getragenen Schwarz: ein fahler Gruß an den Deutschen Herbst, mit den deutschen Farben.
Gotscheff spielt einen Regisseur, der seinen Schauspielern vorspielt. Und der sich selbst in einem Theater orientiert, das gestern war. Zum Beginn der Saison eine sanfte Erinnerung: Sein oder nicht sein, das bleibt die Frage.
Wieder am 15., 16. und 23.9.
Rüdiger Schaper
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