Mosse-Lecture mit Stephen Greenblatt: Erektion im Badehaus
Von der Wollust ins göttliche Licht der Keuschheit: Der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt spricht in seiner Berliner Mosse-Lecture über die Bekehrung des Augustinus.
Seine eigene Bekehrung erlebte er schon in jüngsten Jahren. Woche für Woche hatte Stephen Greenblatt mit seinen Eltern in Cambridge, Massachusetts, den jüdischen Gottesdienst besucht und es nie gewagt, den Kopf zu heben, wenn der Segen gesprochen wird. Wer aufblicke, hatte man ihm eingeschärft, der sehe in diesem Moment Gott durch die Synagoge schreiten und müsse sterben. Doch es kam der Tag, an dem die Neugier seine Angst überwältigte. Er zwang sich, aufzusehen, und entdeckte – nichts. Das Gefühl, betrogen worden zu sein, zerstörte seinen Kinderglauben. Aus einem gottesfürchtigen Jungen war im Handumdrehen ein säkularer Skeptiker geworden.
Greenblatt erzählt davon im Anschluss an seine Mosse-Lecture im Audimax der Humboldt-Universität seinem Gesprächspartner Joseph Vogl wie nebenbei. Der Weg von der Perversion zur Konversion, den der 32-jährige Augustinus von Hippo 386 in einem Mailänder Garten einschlug, führt eben zwangsläufig in beide Richtungen – auch wenn die Narrative, die sich an das Phänomen der Bekehrung knüpfen, fast ausschließlich der Erweckung zum wahren Glauben gelten.
Greenblatt liest Augustinus ohne theologisches Interesse
Wenn Greenblatt, als Literaturwissenschaftler mit Shakespeare-Studien weltberühmt geworden, die zur kulturwissenschaftlichen Schule des New Historicism zählen, die „Bekenntnisse“ des Augustinus auf ihre motivischen Scharniere hin untersucht, liest er sie ohne jedes theologische Interesse. Er liest sie als Texte, die sich auf andere Texte beziehen – in diesem Fall auf die alttestamentarische Geschichte von Adam und Evas Sündenfall, dessen leibseelischen Abgründen er ein gerade entstehendes Buch widmet.
Augustinus erlebte seine Bekehrung als Befreiung von den Zumutungen der Wollust. Ein halbes Leben hatte er bis dahin in fröhlicher Unzucht gelebt. Im nordafrikanischen Thagaste geboren, das damals von den Römern beherrscht wurde, führte er nach eigener Auskunft ein ausschweifendes Leben und lebte anderthalb Jahrzehnte mit einer Frau aus Karthago zusammen. Sie gebar ihm sogar einen Sohn namens Adeodatus. Augustinus’ überschwänglich religiöser Mutter war die wilde Ehe verhasst. Einst war er vor Monnica geflohen. Nun war sie ihm nach Mailand nachgereist, wo er als Rhetoriklehrer arbeitete, führte ihm den Haushalt, verstieß seine geliebte Konkubine, die unter Hinterlassung des Sohnes nach Afrika zurückkehrte, und sorgte für die Verlobung mit einer anständigen Katholikin.
Von der Erektion im Badehaus
Als Urszene einer unheimlichen Sexualität gilt jene auch von Greenblatt ins Zentrum gerückte Passage aus dem zweiten Buch der „Confessiones“, in der sich Augustinus erinnert, wie ihn in einem Badehaus von Thagaste eine Erektion überfällt. „Als mich mein Vater im Bade in meiner aufkeimenden Mannbarkeit und energievollen Jugendkraft sah“, heißt es in der Übersetzung von Kurt Flasch, „entdeckte er es, als böte diese schon Grund genug, auf Enkel hoffen zu können, voll Freude meiner Mutter.“ Monnica allerdings erzitterte, wie es heißt, „in frommer Angst“. Sie ließ auch den Sohn nicht mehr los, bis es ihm gelang, sich mit Gottes Hilfe den Erwartungen der Mutter zu beugen und ein Leben in Keuschheit zu führen. Was im Eigenleben der Geschlechtsteile auch danach kein noch so ausgeprägter Wille kontrollieren konnte, erklärte er kurzerhand für böse.
Für Greenblatt – und nicht nur für ihn – liegt darin der Schlüssel zu jener absurden Körperfeindlichkeit, die Augustinus in seinen theologischen Schriften befestigte. Auch brave Eheleute, die sich zur Zeugung von Nachwuchs dem notwendigen Übel des Geschlechtsverkehrs hingeben mussten, trugen in seinen Augen an der nachparadiesischen Erbsündenschuld. Was Adam und Eva im Garten Eden erlebt hatten, nahm er in seinem unvollendeten Werk „Über den Wortlaut der Genesis“ mit verzweifeltem Bemühen für bare Münze.
Als Geschichte eines weltlichen Motivs mit obskuren religiösen Folgen hat das Züge einer Seifenoper. Greenblatt breitet sie mit stiller agnostischer Lust aus. Ein Neurosenforscher, der nur die Stilisierung verkennt, von der die „Confessiones“ leben und die allein erklärt, warum diese Urschrift des Leib-Seele-Dualismus noch fast 2000 Jahre später eine unverzichtbare Lektüre ist.
Wenn man aus der Verkettung ihrer biografischen Elemente etwas Universelles für das Semesterthema „Konversionen“ lernen kann, ist es die Art und Weise, wie jemand einem zufälligen lebensgeschichtlichen Ereignis im Nachhinein Notwendigkeit verleiht: Autobiografische Konsistenz, legt Greenblatt nahe, gibt es nur um den Preis teleologischen Denkens – gerade in der radikalen Umkehr mitten im Leben.
Am Donnerstag, den 28. Mai, sprechen Stefan Weidner und Christoph Peters zum Thema "Hin und weg. Wie und warum bekehren Europäer sich zum Islam"
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